Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Selbstverständlichkeit, und wir hielten derart still, dass sie uns zunächst gar nicht bemerkte. Sie trug einen Hausmantel, ihr Blick war gedankenverloren. Man hätte meinen können, sie sei gekommen, um die Wäsche aufzuhängen oder die Nachbarin um eine Prise Salz zu bitten. Es lag auf der Hand, dass sie häufig durch diesen Schrank ein und aus ging. Sie schlüpfte rückwärts durch die schmale Tür, und wir konnten dabei sehen, dass sie sich den biegsamen Zirkuskörper bewahrt hatte. Als sie draußen war – wir standen weiter starr und stumm –, reckte sie sich kurz, schloss die Schranktür und richtete sich die Frisur. Der Schrank hatte an seiner Außenseite einen Ganzkörperspiegel. In ihm erblickte sie uns nun. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, als hätte sie gerade vier Zombies entdeckt, die sich auf sie stürzen wollten. Ihr Schreck wiederum erschreckte uns, und wir schrien zurück, jeder mit einem für seine Muttersprache charakteristischen Laut, sodass wir alle zusammen einen magischen Moment der universellen Panik schufen. Dem Echo folgte das Wiedererkennen: wir vier. Und sie.
»Madonna! Che shock!«, rief sie noch aus voller Kehle, in der besten Tradition der italienischen Sopranistinnen, während sie die Hand zur Brust führte und heftig keuchte. Niemand hätte gedacht, dass dieser zierliche Körper zu solchem Gebrüll fähig wäre.
»Was macht ihr hier?«
»Das Gleiche fragen wir uns: Was machen Sie hier, in der Wohnung unseres Vaters? Warum klettern Sie hier aus dem Schrank?«
Chris brachte ihr ein Glas mit einem Fingerbreit Whisky, das sie hinunterkippte wie eine Arznei.
»Ich habe euch nicht kommen hören. Aber was für ein Glück, dass ihr hier seid! Ich wollte nämlich gerade in euern Papieren suchen, nach irgendeiner Telefonnummer oder Adresse, unter der ich euch erreichen könnte.«
Sie sprach abgehackt und machte nun eine Pause, um Luft zu holen.
»Euer Vater wird mich umbringen … Er wollte, dass ich euch nichts davon sage, aber seit ein paar Tagen halten sie ihn fest und …«
»Halten sie ihn fest?«, unterbrachen wir sie alle zugleich. Das Wort machte die abenteuerliche Freude, die in uns aufgestiegen war, auf einen Schlag wieder zunichte.
»Ich wollte euch überreden hinzugehen … heute Nacht, ohne dass er davon weiß. Sie halten ihn fest, um ihn spielen zu lassen, und heute müsst ihr ihn retten … Ihr seid seine Söhne.«
Wir gaben ihr einen weiteren Whisky, damit sie sich beruhigte. Natürlich würden wir unserem Vater helfen, aber zunächst musste sie uns alles erklären, schön der Reihe nach. Da bat sie uns, ihr zu folgen, und einer nach dem anderen zwängten wir uns, als wäre es ein Aufnahmeritual, durch den Geheimgang im Kleiderschrank. Christof, der Stämmigste von uns (er möchte nicht, dass wir der Dickste sagen), blieb dabei fast stecken. Als wir dann in ihrer Wohnung wieder herauskamen, setzten wir uns auf das schon bekannte Sofa und in die Sessel und hörten aus Giudittas Mund das jüngste – und mysteriöseste – Kapitel von Gabriels Leben.
»Wo soll ich anfangen?«, begann sie. Die erste wundersame Mitteilung, die uns alle mit offenen Mündern dasitzen ließ, lautete, dass Gabriel aus diesem Gebäude im Carrer Nàpols nie verschwunden war. Im Gegenteil, er hatte sich die ganze Zeit geradezu hier verschanzt, mit Giudittas Unterstützung. Wir mussten ein Gefühl der tiefen Vergeblichkeit niederkämpfen. Wie weit wir danebengelegen hatten, wenn wir ihn uns irgendwo in Gottes weiter Welt umhergondelnd vorstellten, und wie nah dran wir gewesen waren, wenn wir unsere Versammlungen in seiner Wohnung abhielten!
Wie wir schon vermutet hatten, war die unheilvolle Kartenrunde mit Feijoo und Miguélez vor über einem Jahr für unsern Vater der Grund gewesen, abzutauchen. Er weigerte sich, ihnen das Geld zurückzugeben, das sie ihm vorgestreckt hatten, denn er fand, es stehe ihm zu. Hätte er ohne Druck spielen und sein Talent voll entfalten können, so hätte er ganz sicher gewonnen, sagte er. Zudem gebot es sein Stolz, dieser Bande von Widerlingen eine Lektion zu erteilen.
»Zu der Zeit«, erklärte uns Giuditta, »hatte er schon seit etwa zwei Jahren das Kartenspiel (und das Falschspiel, wenn nötig) ganz zu seinem Beruf gemacht. Er hatte seine Technik sehr verbessert, und er konnte davon leben. Als ich ihn fragte, ob es ihm denn wenigstens auch Spaß mache, sagte er, nicht besonders, nur manchmal, wenn ein anderer zu schummeln versuche und er ihn nicht
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