Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
dass er morgens Gymnastik machte, um sich in Form zu halten … Wie auch immer, nach zwei Wochen trug seine Strategie Früchte, und Miguélez und Feijoo hörten auf, uns zu belästigen. Von einem Tag auf den anderen war Ruhe. Ich konnte es nicht recht glauben, also blickte ich mich in der ersten Zeit noch dauernd um, wenn ich aus dem Haus ging, ob nicht jemand mir folgte oder mich beobachtete. Aber nein, da war keiner. Wir konnten uns entspannen. Inzwischen hatten die Gas- und Wasserwerke auch die Versorgung eingestellt, sodass Gabriels Wohnung sich in den Bunker verwandelte, als den ihr sie kennengelernt habt. Es war eine verkehrte Welt: Das Loch in der Wand führte in ein Gefängnis. Doch dieser traurige Zustand bekümmerte Gabriel überhaupt nicht. Ich konnte es nicht glauben, aber er versicherte mir, er habe an schlimmeren Orten gelebt. An einem strahlenden Frühlingssonntag schlug ich ihm vor, endlich wieder hinauszugehen. Es war fast ein Jahr her, dass er zuletzt einen Fuß auf die Straße gesetzt hatte. Nun mussten wir uns keine Sorgen mehr machen, und es würde ihm guttun, durch den Parc de la Ciutadella zu spazieren, sich die Lungen mit frischer Luft vollzupumpen. Er lehnte ab, es sei zu früh, wir sollten lieber noch zwei Wochen warten, und da verstand ich: Euer Vater hatte sich in einen Kranken verwandelt, der nicht geheilt werden wollte. Wenn er durch das Loch in meine Wohnung kroch, war es für ihn schon wie Hinausgehen. Er reiste nach Italien, und ich kochte ihm einen Teller Nudeln, seht ihr? Dieser Zustand war, wie ihr euch vorstellen könnt, lästig, langweilig, unbequem, und außerdem zersetzte er unsere Freundschaft. Früher hatten wir nie gestritten, aber nun gerieten wir wegen jeder Lappalie aneinander. Er zog sich dann schmollend in seine Wohnung zurück. Eines Nachts, nach so einem Streit, lag ich schlaflos in meinem Bett und er in seinem. Die Schranktür war angelehnt, durch den Tunnel blieben wir in Verbindung. Wenn ich die Ohren spitzte, konnte ich hören, wie er sich herumwälzte, weil er genauso wenig schlafen konnte wie ich, und ich hätte ihm gerne geholfen, hätte mir gewünscht, wir würden einander trösten. Das war der Moment, in dem ich beschloss, zu handeln …«
Giudittas Wagemut führte zwar ein Ende der Verkapselung herbei, brachte aber zugleich für beide neue Unsicherheiten. Zur schlimmsten Zeit der Belagerung durch Feijoo und Miguélez hatte sie Gabriel vorgeschlagen, er solle versuchen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Er hatte abgelehnt. Er habe uns ja jahrelang nicht gesehen, sagte er, viele, viele Jahre, und er wüsste nicht einmal, wo er nach uns suchen sollte (das stimmte nicht). Zudem wüssten wir Söhne nicht voneinander. Es wäre für uns ein Schock (ja, das war es) und ein Trauma (nein, das nicht). In einem schwachen Moment hatte er ihr gestanden, dass wir Christofs die große Enttäuschung seines Lebens bedeuteten, den Nachweis, dass er zu keiner geordneten Existenz fähig war. Er hatte uns im Stich gelassen und kein Recht, irgendetwas von uns zu erwarten. »Vielleicht sind sie nicht so wie du!«, hatte ihm Giuditta entgegengeschleudert, was uns nun, da sie es berichtete, alle vier beschämt erröten ließ. Jedenfalls, am Morgen nach jener beiderseitig schlaflosen Nacht verriet Giuditta unsern Vater. Nachdem sie es mit den Nachbarn und dem Eigentümer der Wohnung besprochen hatte, ging sie zur Polizei und meldete Gabriel als vermisst. Seit sechs Monaten, sagte sie, habe ihr Nachbar kein Lebenszeichen gegeben. In ihrem Übermut dichtete sie noch hinzu, im Treppenhaus mache sich Leichengeruch bemerkbar – was wiederum die Fantasie der Nachbarn anstachelte. Wie sich zeigte, war ihre Taktik gut gewählt: Amtliche Ermittlungen wurden eingeleitet, wie in solchen Fällen vorgeschrieben.
Von diesem Punkt an kannten wir Christofs schon den Großteil der Ereignisse, die zu unserm Zusammentreffen geführt hatten. Giuditta aber legte sie aus einem anderen Blickwinkel dar, ihrem eigenen. Kurz nachdem sie die Anzeige erstattet hatte, erschien ein Polizist in Gabriels Wohnung, in Begleitung des Vermieters, und vergewisserte sich abermals, diesmal offiziell, dass Gabriel verschwunden war. Nun galt es, die nötigen Maßnahmen zu treffen.
Es war frühmorgens. Unser Vater schlief in Italien. Bevor er aufwachte, hatte Giuditta heimlich die Grenze überschritten und auf dem Nachttisch des anderen Schlafzimmers einen Zettel hinterlassen. Auf dem waren unsere vier Namen notiert. In den
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