Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
das ich ihnen schulde. Sondern wegen des Geldes, das ich ihnen die ganze Zeit abgenommen habe.«
Er griff sich einen Zettel und einen Kuli und begann Zahlen zu addieren und zu multiplizieren. Das Ergebnis war beeindruckend.
»Man kann sagen, dass sie anderthalb Jahre lang für meinen Lebensunterhalt aufgekommen sind.«
Giuditta stieß einen bewundernden Pfiff aus.
»Das Problem ist, dass sie jetzt plötzlich, weshalb auch immer, den Verdacht haben, ich hätte falsch gespielt.«
Während er das aussprach, kam ihm selbst ein Verdacht. Er holte die Jacke her, die er in der Nacht der letzten Pokerpartie getragen hatte, und durchsuchte die Ärmel. Aus jedem zog er eine Karte hervor, die er sich dann genau ansah. Die eine war ein Joker, und schnell fiel ihm der Punkt auf, den Feijoo zwischen die Augen der Figur gemalt hatte.
»Ich bin am Arsch«, sagte er und warf die Karte mit einer Geste der Verzweiflung fort.
»An dem Abend maß Gabriel die Schlafzimmerwand aus«, so Giuditta weiter, »und als Antwort auf meine Frage, warum er das tat, bat er mich, in einen Eisenwarenladen zu gehen und Hammer und Meißel zu kaufen. Er sagte es so ruhig und bestimmt wie jemand, der einen genauen Plan hat. ›Wenn ich längere Zeit hier drinbleiben muss‹, erklärte er, ›dann sollen wir wenigstens die Grenze zwischen Spanien und Italien überschreiten können, wann wir wollen.‹ Am nächsten Morgen stellte er einen Musiksender im Radio auf volle Lautstärke, um die Hammerschläge zu übertönen. Dann räumte er den Kleiderschrank aus, zeichnete mit Bleistift ein Fenster hinein und begann die Wand aufzumeißeln. Wie er da drinhockte, das Gesicht voller Staub, und sich um ihn her der Schutt anhäufte, sah er aus wie Steve McQueen in Gesprengte Ketten. Drei Stunden später hatte er schon ein Loch von achtzig mal achtzig Zentimetern gebrochen, groß genug, um hindurchzukriechen, also hinüber in seinen Kleiderschrank. Am Nachmittag besserte er es noch aus. Er schliff die Ränder glatt und tarnte den Durchschlupf mit Spanplatten und alten Schuhkartons. Spätabends überquerten wir die Grenze auf allen vieren, und zum ersten und einzigen Mal, seit wir uns kannten, bestand er darauf, dass ich bei ihm übernachtete. Vielleicht ist es albern von mir, aber mich machte das sehr glücklich …«
Wir Christofs hörten mit offenen Mündern zu. Was Giuditta da schilderte, übertraf bei Weitem alles, was wir uns ausgemalt hatten. Wir waren es ja von klein auf gewohnt, dass unser Vater sein Leben in komplizierten Manövern gestaltete, aber diese jüngste Serie überforderte uns. Dazu trug auch die physische und zeitliche Nähe der Vorgänge bei. Wir saßen auf Giudittas Sofa, wir hatten den Durchgang benutzt, den Gabriel gebaut hatte. Seine Wohnung, die wir in unsern wichtigtuerischen Klub der Christofs verwandelt hatten, schien plötzlich ein Schauplatz des Fantastischen zu sein, ein Ort, der eine Zeit lang in zwei verschiedenen Dimensionen gleichzeitig existiert hatte, in seiner und in unserer. Und nun, indem wir durch diesen Schranktunnel krochen, waren wir selbst in die andere Dimension gelangt.
Der Abend schritt fort, draußen wurde es dunkel, aber uns blieben immer noch drei Stunden, bis die Kartenpartie beginnen sollte. Wir saßen wie gebannt und wollten mehr wissen. Giuditta erzählte weiter, und plötzlich überkam uns eine Art mädchenhafter Scham, denn nun erschienen wir selbst auf der Bildfläche. Die Handlung verwickelte sich.
»Auch wenn es anfangs so aussah, als würden wir aus zwei Haushalten einen machen und als würde uns das enger aneinander binden, habe ich, offen gestanden, diesen Geheimgang zu hassen gelernt. Nach und nach verfiel Gabriel wieder in seine alten Gewohnheiten, bloß dass er anstelle des Treppenabsatzes nun den Durchschlupf benutzte. Wir schliefen zusammen in meiner Wohnung, aber wenn ich arbeiten ging oder mich mit einer Freundin zum Abendessen traf (zum Glück hatte ich mein soziales Leben nicht völlig aufgegeben), ging er in seine Wohnung hinüber. Wenn er mich zurückkommen hörte, kam auch er zurück. Für mich wäre es unerträglich gewesen, all die Stunden totzuschlagen, aber ich fürchte, er sah das nicht als vorübergehenden Zustand an, sondern als etwas Endgültiges. Ich brachte ihm die Zeitung mit, und er las sie, das ja, aber ich kann euch nicht sagen, was er sonst noch machte. Den Fernseher schaltete er nie ein, er sagte, dass er sich vor Jahren daran übersättigt habe. Was ich weiß, ist,
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