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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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ihnen wie ein Lamm zur Schlachtbank. Die Szene wiederholte sich am Donnerstag und auch gestern, zur selben Zeit. Mit jeder Nacht wird er erschöpfter und entstellter, die Anspannung frisst ihn auf. ›Es ist ein großer Unterschied, ob du für dich selbst gewinnst oder für andere gewinnen musst‹, sagt er. Den Tag über dämmert er in der Wohnung dahin, in einer Wartestellung wie ein Todeskandidat. Wenn es so weitergeht, wird euer Vater nicht mehr lange durchhalten. Darum habe ich heute, als ich wieder sah, wie er sich aus dem Haus schleppte, beschlossen, euch um Hilfe zu bitten. Ich brauchte dafür eine Adresse oder Telefonnummer, unter der ich euch erreichen könnte. Aber nun hat es mir die Vorsehung ja leichter gemacht, und ihr habt euch auf einmal alle vier hier materialisiert. Als hätte dieser Kleiderschrank ein Wunder bewirkt.«
    Sie hielt inne, um auf die Uhr zu blicken.
    »Ich glaube, es ist höchste Zeit …«
    Es war höchste Zeit, ja. Wir waren alle so gefesselt von der Geschichte, dass wir nicht gemerkt hatten, wie die Stunden verflogen.
    »Um elf geht es los?«, fragte Christophe, und Giuditta nickte. Uns allen begannen die Köpfe zu rauchen: Was konnten wir tun, um unsern Vater zu befreien?
    »Uns bleibt eine Stunde, um alles vorzubereiten.«
    »Wann haben sie ihn denn abgeholt?«, fragte Chris.
    »Nach dem Mittagessen. So um vier vielleicht. Aber keine Ahnung, wo sie ihn bis zum Spiel versteckt halten.«
    »Hast du ein Auto, Giuditta, das du uns leihen kannst?«, fragte Christof.
    »Einen Opel Corsa. Aber wofür?«
    »Wenn wir Gabriel befreien wollen«, erklärte Cristòfol furchtlos, »brauchen wir einen Fluchtwagen. Am besten wäre natürlich eine schwarze Luxuslimousine mit getönten Scheiben, aber ich denke, ein Corsa tut’s auch.«
    Genug geredet. Es galt, zu handeln.
    Die Befreiung
    Die Bar Carambola liegt im Carrer Sicília, linker Hand, wenn man bergauf geht, auf einem schummrigen Abschnitt zwischen Gran Via und Diputació. Die Straßenlaternen in dieser Gegend geben ein orangefarbenes Licht, das von den dichten Kronen der alten Platanen fast ganz geschluckt wird. In der Nachbarschaft gibt es keine weiteren Kneipen oder Geschäfte, und der Passatge Pagès, ein Geistergässchen, das da abzweigt, macht das düstere Bild komplett.
    Dieses Umfeld begünstigte unser Vorhaben. Wir hatten einen Plan ausgeheckt, der schon auf den ersten Blick irrsinnig wirkte, an dem wir aber keinen Zweifel duldeten. Vielleicht weil wir keine andere Wahl hatten. Alle vier Christofs hatten wir einst unsere Einsamkeit mit Superheldencomics gemildert. Das Leben, hatten uns die Erwachsenen immer gesagt, sei aber etwas anderes. Und nun schickten wir uns an, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Wir freuten uns wie die Kinder.
    Um Punkt elf Uhr, als wir den Corsa ein Stück abwärts von der Bar in zweiter Reihe parkten, war die Straße wie ausgestorben. Wir hatten Giuditta überreden können, zu Hause zu bleiben, und während wir anderen im Auto warteten, verschaffte sich Cristòfol einen Überblick über die Lage. Der eiserne Rollladen der Carambola war halb herabgelassen. Ein schwacher Lichtschein drang aus dem hinteren Teil der Bar. Fünf Minuten später sagte der Kellner jemandem Tschüs, schlüpfte heraus und bückte sich, um den Rollladen ganz hinunterzuziehen. In dem Moment ging Cristòfol zügigen Schritts an ihm vorbei und murmelte, ohne stehen zu bleiben: »Bitte mach nicht ganz zu.« Der Bursche schrak zusammen, aber dann erkannte er die Gestalt und die Stimme und signalisierte: einverstanden.
    Cristòfol kehrte zurück zum Auto, und wir warteten noch eine halbe Stunde ab. Wenn wir unseren triumphalen Einzug hielten, sollten die Spieler schön in ihre Partie vertieft sein. In der Zwischenzeit zügelten wir unsere Erregung, indem wir uns eine weitere Flasche Whisky teilten, die Giuditta uns beim Aufbruch noch geschenkt hatte. Wir tranken und lachten über unsere Verkleidung. Zwar trugen wir weder Masken noch bunte Umhänge noch Sturmhauben, doch wir hatten in Gabriels und Giudittas alten Klamotten gewühlt und uns angemessen ausstaffiert. Wir waren ein extravagantes Quartett und bauten darauf, dass unser Erscheinungsbild seine Wirkung tun würde. Christof, mit Rollkragenpulli und von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, verkörperte einen Spion aus dem Kalten Krieg. Chris, der Längste und Dünnste, hatte sich in einen sehr vornehmen Nadelstreifenanzug geworfen (dreißig Jahre zuvor von unserm Vater geraubt, Reise

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