Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Händen der Polizei verwandelte sich diese Liste in ein Beweisstück und brachte die Nachforschungen in Gang, die Giuditta sich erhofft hatte. Als Erstes machten sie Cristòfol ausfindig. Wenn dieser Junge nur ein bisschen neugierig war, würde er herausfinden wollen, wer hinter den drei anderen Namen stecke, oder er würde versuchen, seinen Vater zu finden …
»So oft habe ich daran denken müssen, wie du zum ersten Mal hergekommen bist, Cristòfol«, fuhr Giuditta fort. »Es war ein Wunder, dass du nicht mit Gabriel zusammengestoßen bist! Sekunden bevor du die Schranktür geöffnet hast, war er in meine Wohnung entwischt und hatte schnell noch dafür gesorgt, dass der Durchgang gut verdeckt war. Was wäre passiert, wenn du nicht nur die Spielkarten in den Ärmeln entdeckt hättest, sondern auch das Versteck? Ich habe es mich oft gefragt … Wahrscheinlich wärst du erschrocken weggerannt, und wir wären heute nicht hier. Egal, besser nicht darüber nachdenken. Die Sache ist, während du durch die Wohnung spaziert bist und dich vertraut gemacht hast mit der Abwesenheit deines Vaters darin, regte er sich jenseits der Wand so sehr auf, wie es ich noch nie bei ihm erlebt habe. Es geschah ihm nur recht, störrisch, wie er war. Wie lange warst du dort? Sechs, sieben Stunden? Er lauschte auf deine Schritte, das Ohr an die Wand gepresst. ›Wer ist das?‹, fragte er mich alle fünf Minuten. ›Meinst du, Miguélez und Feijoo sind zurück? Der Polizist hat ihnen den Schlüssel gegeben …‹ Ich wollte ihm weiteres Leid ersparen. ›Also gut, ich wollte es dir nicht sagen, damit du dich nicht ärgerst, aber die Nachbarn und der Vermieter haben dich als vermisst gemeldet. Normalerweise sucht die Polizei in solchen Fällen den nächsten Angehörigen. Das dürfte also deine Frau in Barcelona sein, Gabriel, oder dein Sohn …‹ Ich formulierte das so vorsichtig, wie ich konnte, denn ich fürchtete, er würde ausflippen, doch er nahm es sehr gefasst auf. Die Vorstellung, dich wieder zu treffen, gefiel ihm plötzlich gar nicht schlecht. Für mich war das ein erster Sieg. ›Wie alt wird Cristòfol jetzt sein?‹, fragte er sich laut, und dann verlor er sich in Gedankenspielen …«
Von nun an verlief die Geschichte der Christofs ganz nach den Wünschen unseres Vaters. Er hatte einen Heidenrespekt davor, uns wiederzutreffen, doch zugleich, sagt Giuditta, verfolgte er unsere Schritte sehr erwartungsvoll. An dem Tag, als wir zum ersten Mal zu viert in die Wohnung kamen, war er außer sich vor Freude. Wir wollen es gerne so sagen: Auf einmal fügte sich seine zersplitterte und verlorene Vergangenheit zusammen und gewann einen neuen Sinn. Unter der Woche, wenn keine Gefahr bestand, dass wir auftauchen würden, ging er in die Wohnung und prüfte unsere Fundstücke. Dann ordnete er seine Habseligkeiten, um uns die Arbeit zu erleichtern, und sah die Notizen durch, die wir von unseren Nachforschungen gemacht hatten. Er las Carolinas Briefe, er hörte sich unser Gespräch mit Petroli an und vertiefte sich stundenlang in all die Fotos, die wir zusammengetragen hatten. Auch wenn er sich vor Scham nicht traute, uns gegenüberzutreten, genoss er es doch, uns in seiner Nähe zu haben – so nah, dass wir ihn eines Samstags, als er in der Wohnung einen Mittagsschlaf machte, fast erwischt hätten. Manchmal, so Giuditta, sah es aus, als wünschte er sich das. Unser Entschluss, die Miete zu bezahlen, sodass Licht, Wasser und Gas wieder funktionierten, schien ihn mit Sauerstoff zu versorgen. Sein ganzes Leben lang war er ein Entwurzelter gewesen, und nun endlich, mit sechzig Jahren, verspürte er eine Art Bindung an einen Ort …
»Mir schien er wirklich reif, ganz kurz davor«, sagte Giuditta. »In Bezug auf euch, meine ich. Also dass er sich nun bald finden lassen würde. Ein wichtiges Anzeichen war, dass er tatsächlich wieder ab und zu auf die Straße ging. Er setzte sich eine Sonnenbrille auf und einen Hut, den ich ihm gekauft hatte, und spazierte durch den Parc de la Ciutadella, zu den Tageszeiten, in denen da nicht so viele Leute unterwegs sind. Vielleicht war das nichts Besonderes, aber für mich bedeutete es eine entscheidende Wendung. Seine Bereitschaft, euch wieder zu treffen, wurde von Tag zu Tag größer, dank der Dokumente, die ihr ihm unwissentlich zugespielt habt … Aber dann, vor drei Wochen, kamt ihr der Sache ganz nah, und wieder änderte sich alles …«
Giuditta stiegen Tränen in die Augen. Wir gossen ihr den letzten
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