Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Pensionsgastlichkeit verbanden, und er wollte keinen anderen Zustand.
»Als wäre für ihn die ständige Bewegung in der Pension, wo jeder kam und ging wie er selbst, eine Fortsetzung des angenehmen Gefühls, auf Reisen zu sein«, merkt Christof an.
»We’re Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band, we hope you will enjoy the show …«
Schon gut, Chris, wir haben es kapiert. In jenem Klub der einsamen Herzen lernten Bundó und unser Vater Leute aller Art kennen. Liebenswerte und Eitle werden dabei gewesen sein, Geizige und Großzügige, Schüchterne und Polternde, Verschlagene und Spöttische. Seit einigen Jahren pulsierte die Stadt zumindest zeitweise wieder wie vor dem Krieg, und es wimmelte in ihr wie in einem Ameisenhaufen. Noch ließen sie sich an den Fingern einer Hand abzählen, doch es gab Wochen, in denen diese Unrast auch auf die Pension übergriff. Die Gäste gaben sich die Klinke in die Hand, Frau Rifà kam mit dem Waschen von Bettzeug und Handtüchern kaum noch nach. So erwachte die Stadt wieder, schlecht gelaunt, mit schwerem Kopf und von Albträumen gebeutelt, doch das hektische Treiben ließ ihr keine Minute zum Verschnaufen. Die Straßenbahnen und Busse, die Lastwagen und Autos und die Menschen auf den Straßen zwickten Barcelona, und da musste Barcelona reagieren.
An einem Sonntagvormittag, als wir vier Christofs durch das Viertel Sant Antoni schlenderten und nach Hinweisen auf jene Zeit suchten, fanden wir auf dem Bücherflohmarkt einen Band mit Fotos aus genau den Jahren.
»Vielleicht stehen da irgendwo mal Bundó und der Vater im Hintergrund herum«, stachelten wir uns an.
Aber nein, taten sie nicht. Es hätte auch wenig Gelegenheit gegeben, sie zu knipsen, sie waren ja damals dauernd unterwegs. Die Fotos waren schwarz-weiß mit starken Kontrasten, die größeren ziemlich grobkörnig. Auf dem ersten Bild, wohl an einem Spätnachmittag vom Hang des Tibidabo aus aufgenommen, erstreckte sich die ganze Stadt, vom Hafen und vom Hügel Montjüic bis zu den Schloten von Sant Adrià. Ein leichter Dunstschleier hüllte sie ein und verwandelte sie in eine schimmernde Illusion. Danach stieg der Fotograf hinab in ihre Eingeweide und vertiefte sich in tausend Details. In diesem Band hatten alle Platz: von den Mädchen aus gutem Hause, wie sie in die Gesellschaft eingeführt wurden, bis zu den Pferderennen im Club de Polo; von den Abdeckern im Schlachthof bis zu den Biertrinkern auf der Plaça Reial; von der Tombola und den Aufführungen beim Stadtteilfest von Gràcia bis zur Prozession der heiligen Eulalia, bei der die Polizisten Helme mit Federschmuck trugen; von den in Weiß getauchten Plätzen beim großen Schneefall 1962 bis zu den Hochhaus-Rohbauten von La Verneda und den Baracken von Montjüic. Wenn wir die Spuren unseres Vaters aus der Nähe verfolgen wollten, mussten wir uns tief in diese Bilder hineinbegeben und ihre flüchtigen Schatten einfangen. Wir versuchten zu jedem Foto die Gerüche zu schmecken, die Geräusche zu hören. Während sich die Lichthöfe der Mietshäuser im Eixample mit dem Gestank gekochten Kohls füllten, hörten die Pförtner Radio und schimpften halblaut vor sich hin. Die Huren im Barri Xino zupften sich die Strapse zurecht und frischten ihr billiges Make-up auf. Die Ladenbesitzer schmückten ihre Schaufenster mit Konserventürmen. Wachsoldaten dämmerten in ihrer Kabine vor sich hin. Auf den Pflastersteinen vergoren die gepinkelten Lachen, während ein Mädchen an einem Brunnen hockte und Lupinensamen aß. Ein Soldat auf Freigang kaufte einer jungen Schneiderin Blumen an einem Stand auf der Rambla. Ein Großvater trat im Schlafanzug auf den Balkon und kratzte sich am Sack. Ein kleiner Junge im Feinrippunterhemd schoss mit einer Fletsche auf Kanalratten. Ein Mädchen im kurzen Rock spürte, wie die Brise, die vom Hafen heraufwehte, ihr die Beine streichelte. Ein kleinwüchsiger Mann, der eine weiße Schürze und darüber ein löchriges Sakko trug, drückte sich durch eine Gasse und hielt unter dem Jackett ein fest verschnürtes Päckchen verborgen …
»Stopp! Anhalten!«
Dieser schmächtige Mann, der die Haare immer voller Mehl hatte, war ein Bäckergeselle namens Lluís Salvans und wohnte in Frau Rifàs Pension. Es ist nur eine Vermutung, aber eine recht wahrscheinliche, dass sich in dem Bündel von der Größe eines dicken Buchs, eingewickelt in grobes Packpapier, ein Stapel hektografierter Flugblätter mit revolutionären Parolen befand, der im Morgengrauen
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