Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
vor den Toren einer Markthalle – oder nach einer Opernaufführung am Ausgang des Liceu oder mitten auf der Plaça de Catalunya – ausgelegt werden sollte. Salvans galt eine Zeit lang als der geheimnisvollste von Frau Rifàs Mietern; nach seinem Verschwinden ging dieser Ruhm auf Gabriel über. Immer schien er vor irgendetwas auf der Flucht, allen misstraute er. Begegnete man ihm auf dem Flur, so wich er dem Gespräch nicht aus, bestand aber darauf, es im Flüsterton zu führen. Zum Eindruck des Mysteriösen trug auch sein Beruf bei: Er arbeitete nachts und frühmorgens in einer Bäckerei im Carrer Hospital, sodass er mit den anderen Bewohnern allenfalls an seinen freien Tagen zusammentraf, also samstags oder feiertags. Wenn er dann nach dem Abendessen vom Tisch aufstand und zur Tür hinausging, ließ er oft zehn Sekunden verstreichen, in denen er reglos auf dem Flur stand, als zählte er zu den ausgestopften Tieren, um danach überraschend noch einmal ins Esszimmer zu treten; und wehe, er erwischte jemanden dabei, dass er schlecht über ihn redete. Die anderen Mieter wussten das natürlich. Sie hatten sich angewöhnt, ihn, wenn er wieder hereinplatzte, alle stumm anzustarren, und es fiel ihnen schwer, sich das Lachen zu verkneifen, wenn ihm dann das Gesicht vor Zorn rot anschwoll. Die Spur von Salvans und seinen Neurosen verliert sich Ende der Sechzigerjahre jenseits der französischen Grenze. Sein Name taucht in irgendeinem Geschichtsbuch auf, er liegt dort im Massengrab der Fußnoten bestattet. Viel haben wir nicht über ihn herausfinden können, bloß dass er irgendwie in Kontakt stand mit dem, was von der anarchistischen Gewerkschaft CNT übrig geblieben war, und dass er ab und zu bei subversiven Aktivitäten mitmischte. Einmal, als sie sein Zimmer fegte, entdeckte Frau Rifà unter dem Bett einige Bücher, die verboten aussahen. Bakunin, Kropotkin, Malatesta … solche allzu russischen oder allzu seltsamen Namen kamen ihr verdächtig vor. Salvans erkaufte ihr Schweigen, indem er ihr jeden Morgen, noch ofenwarm, ein Ein-Kilo-Brot aus der Bäckerei mitbrachte.
»Ziehen Sie es mir von der Miete ab, wie besprochen«, sagte er zur Tarnung, wenn einer der anderen ihn bei der Übergabe ertappte.
Unser Vater und Bundó waren, als sie ihn kannten, zu jung und unwissend, um zu verstehen, was ihn umtrieb, dennoch sprachen sie beide voller Sympathie von Lluís Salvans. Gerade weil sie so geheimnisvoll daherkamen, wurden seine geflüsterten Worte, wurde das libertäre Gedankengut für die beiden Freunde zu einem Teil ihrer ideologischen Grundausstattung. Wobei wir hier nicht von einer ausgeprägten politischen Haltung sprechen: Weder unser Vater noch Bundó entwickelten in der Hinsicht jemals echte Ambitionen; diese Buchseiten halten keine großen Gesten oder Heldengeschichten bereit. Der Zug des heroischen Kampfes fuhr in weiter Ferne an ihnen vorbei, während sie unter Aufsicht einer Nonne mit fettiger Gesichtshaut die Ausbildung des Nationalen Geistes pauken oder streng gescheitelt, in Anzug und Krawatte, bei der Kinderprozession des Eucharistischen Kongresses mitlaufen mussten. Später, als sie ein Bewusstsein dafür entwickelten, empörten sie sich über all die Einschränkungen und das karge Dasein, das der Diktator und seine Anhänger den Leuten aufzwangen – zumal nachdem sie begonnen hatten, mit dem Pegaso durch Europa zu reisen, und feststellten, dass man außerhalb Spaniens viel besser lebte. Doch die andauernde Plackerei mit den Umzugsfuhren hielt sie gefangen. In diesem Sinne waren sie tatsächlich Opfer, und kein Tag verstrich, ohne dass sie darüber murrten. So wie ihnen erging es in jenen Jahren vielen: Sie waren dagegen, aber sie richteten nichts aus, denn ihr Widerstand wurde von Gestalten wie Herrn Casellas täglich erstickt. Zum Beispiel schilderte uns Petroli, dass die Betriebsratssitzungen bei La Ibérica eine Farce waren, dirigiert von Deulofeu, dem Liebling des Chefs, der seine Karriere als Petze bei den Nonnen im Heim begonnen hatte und als Petze bei Casellas weiterführte.
Um wieder auf das andere Extrem zu kommen, den Einfluss von Lluís Salvans, müssen wir in den ersten Winter zurückkehren, den Bundó und Gabriel im Hause Frau Rifàs verbrachten. Eines Samstagabends, es war zu kalt, um sich in den Straßen herumzutreiben, blieben sie nach dem Essen noch zum Kaffee am Tisch sitzen und begannen dann, mit der Rechtfertigung, dass es eine Flasche Soberano zu leeren gab, Karten zu spielen. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher