Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
Vom Netzwerk:
gesamte erste Etage des vierstöckigen Gebäudes ein und der Salon wies einen verglasten Balkon zur Straße hin auf, doch das Innere erfüllte bei Weitem nicht, was die Fassade versprach. Es handelte sich um eine durchaus bescheidene Pension. Die sechs Zimmer, mit hohen Decken und unechtem Stuck, verteilten sich fächerförmig um einen langen Flur. Die Milchglasscheibe der Badezimmertür ließ wabernde Silhouetten erkennen, die Toilette war separat untergebracht, in einem winzigen Gelass. Die Küche sowie das Zimmer der Wirtin bildeten einen abgeteilten Bereich und wirkten wie ein Sperrgebiet innerhalb der Wohnung, zu dem die Mieter keinen Zutritt hatten, und gleich hinter dieser Abzweigung mündete der Flur in das lichtdurchflutete Wohn-Esszimmer mit dem Balkon auf die Ronda.
    Einen offiziellen Namen hatte die Pension nicht, auf dem verbeulten Schild neben der Haustür stand lediglich »Pension. Reisende und Festmieter. 1. Etage«. Die Besitzerin stammte aus der Gegend von Vic und hatte das Etablissement zehn Jahre zuvor von einer Tante geerbt. Natàlia Rifà war eine zierliche und lebhafte Frau, ein Energiebündel. Alleinstehend und ohne Illusionen – ihre fünfzig zähen Jahre sah man ihr an, und ihre Koketterie war die eines Menschen, der nichts zu verlieren hat –, rannte sie immerzu durch die Wohnung, als wäre in einem der Zimmer Feuer ausgebrochen. Trotz der erlittenen Enttäuschungen hatte sie es nicht aufgegeben, sich jeden Morgen zurechtzumachen, wobei sie auf ein Korsett zurückgriff, das ihr mandelförmige Hüften verlieh. Im Hausmantel konnten ihre Mieter sie nur erblicken, wenn sie morgens in die Küche trat. Ehe sie dann das Frühstück auftrug, warf sie sich bereits in Schale. Sie war sehr reinlich und erzog auch ihre Gäste dazu. Sie kochte passabel, das heißt, sie verstand mit Salz umzugehen, aber Freude hatte sie nicht daran, und vielleicht war das der Grund, warum sie nur Männer als Mieter aufnahm. Die gaben sich leichter zufrieden.
    Renoviert worden war die Etage zuletzt lange vor dem Krieg. Im Sommer schwitzten die Wände, und wenn es regnete, bildeten sich in einigen Zimmern feuchte Flecken, die nicht so bald verschwanden (ein abergläubischer Student aus Jaca erkannte in ihnen Gesichter). Das Mobiliar ächzte vor Altersschwäche, und die Küchenutensilien waren vom Herdfeuer ganz schwarz. Noch mehr aber trugen zu dem welken Ambiente die ausgestopften Tiere bei.
    Vogel, Hund, Nager oder Katze: Jedes Zimmer hatte sein einbalsamiertes Maskottchen. Man hätte meinen können, man sei im Naturkundemuseum. Von über der Garderobe aus, halb verdeckt von den Mänteln und Hüten, bewachte ein Fuchs mit glänzendem Pelz den Eingang – du darfst rein, du bleibst draußen. Am Boden, neben dem Schirmständer, leistete ihm sitzend ein gutmütiger Dalmatiner Gesellschaft und schien darauf aus, von allen, die kamen oder gingen, gestreichelt zu werden. Ein Eichhörnchen, den Schwanz wie eine Feder hochgestreckt, hielt auf dem Bücherregal im Flur die Reader’s-Digest -Bände fest (das Abonnement hatte die Hausherrin zusammen mit der Wohnung geerbt). Im Glasschrank neben dem Esstisch plapperten ein himmelblauer Papagei und ein bunter Kakadu mit aufgerissenen Schnäbeln auf ewig die häufigsten Worte der Pensionsbewohner nach. In einer anderen Ecke desselben Schranks sog ein Kolibri mit schillerndem Gefieder, im Stehflug erstarrt, den Nektar aus einer exotischen Plastikblume. Eine Ginsterkatze mit halb offenem Mund, die auf dem Barmöbel kauerte, starrte sehnsüchtig auf solch saftige Beute.
    Der Hang zur Taxidermie hatte sich bis auf den Treppenabsatz verbreitet. Mit Einwilligung der Nachbarn, die darin ein ungewöhnliches Detail sahen, von dem das ganze Haus profitierte, hatte Frau Rifà neben der Wohnungstür den Kopf einer Wildziege aufhängen lassen, mit spitzen, spiraligen Hörnern. Hatte ein besonders treuer Gast das Vertrauen der Wirtin gewonnen, so offenbarte sie ihm das Geheimnis der Ziege: In ihrem Maul, hinter den Zähnen, lagerte ein Zweitschlüssel zur Pension, für die Zuspätkommer und Schussel.
    Es fiel den Gästen nicht leicht, sich an die Anwesenheit des Bestiariums zu gewöhnen. Beim Kaffee oder nach dem Essen machten falsche Gerüchte über die mindere Qualität einiger der Präparationen die Runde. Dann begannen Neuankömmlinge sich zwanghaft zu kratzen und träumten einige Nächte lang von Viechern mit grotesk geblähten Bäuchen, um die herum widerwärtige Fliegen surrten.
    Frau

Weitere Kostenlose Bücher