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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Fernsehshows zu wirken, in denen ranzige Anekdoten ausgegraben und alte Schulfreunde wieder zusammengebracht werden, die sich in Wahrheit nicht mehr leiden können. Aber wir hofften, in Petrolis Erinnerungen wertvolle Hinweise auf den Fluchtpunkt unseres Vaters zu finden. Immerhin hatte er fast zehn Jahre lang – seit Herr Casellas die richtigen Strippen zog und Mudanzas La Ibérica ins einträgliche Geschäft der internationalen Spediteure vordrang – mit Bundó und Gabriel in einem Pegaso-Lkw sozusagen zusammen gewohnt. In den Notizheften unseres Vaters sind zweihundert Fahrten verzeichnet, hauptsächlich nach Frankreich, Deutschland und England; Italien und Portugal blieben außen vor, weil für diese Länder eine andere Firma mit der Regierung einen Exklusivvertrag ausgekungelt hatte. Es waren also im Durchschnitt zwei oder drei Reisen im Monat, und jede dauerte, mit Hinfahrt, Ausladen und Rückfahrt, drei oder vier Tage. Hinzu kam, dass die drei Freunde in dieser Zeit auch bei Umzügen innerhalb Spaniens fast immer als Team arbeiteten.
    Petroli ist heute achtzig Jahre alt und hat sich sehr gut gehalten. Er lebt in einer deutschen Nordseestadt, wo die Winterabende nach Kaminholz und Räucherfisch duften. Genauer sollen wir es nicht sagen, darum hat er uns gebeten; es ist die einzige Bedingung, die er uns stellte. Wenn er zurückblickt auf seine großen Lebenswünsche, kann er sagen, er hat das erreicht, wovon er in seiner Zeit als Fernfahrer am meisten geträumt hat: ein Haus mit Garten in einem ruhigen Wohnviertel, an einer Meeresbucht gelegen. Dort lebt er mit Ángeles zusammen, einer Spanierin, gebürtig aus Oviedo, die Ende der Fünfzigerjahre nach Deutschland auswanderte. Weil Petroli ein stattlicher Mann ist, von noch immer halbwegs athletischem Wuchs und mit breitbeinigem Gang (wie alle Möbelpacker plagt ihn der Rücken), sagt Christof, er sehe aus wie ein ehemaliger Fußballstar; ein Bundesliga-Mittelstürmer, der noch ab und zu ein nostalgisches Interview gewährt. Zum Beispiel uns.
    Chris dagegen gerät auf ein patriotisches Gleis und fängt an zu fantasieren: »Stellen wir uns vor, eines Tages würde Madame Tussaud in London unseren Vater und seine Freunde als Wachsfiguren ausstellen. Ich glaube, dann würden alle sich mit Petroli fotografieren lassen. In seinem dunkelgrünen Overall halten ihn die Besucher für einen Lord Mountbatten in Fliegeruniform, wegen dieser gutmütigen, aber auch etwas trügerischen Ruhe, die er ausstrahlt. Sein Gesicht macht deshalb so neugierig, weil es die entspannte Selbstbeherrschung zeigt, die sich einstellt, wenn einer im Leben viel gesehen hat.«
    Er pausiert und denkt kurz nach, dann macht er weiter: »Und wo wir schon dabei sind, also wenn ihr erlaubt – Bundó wäre ein Doppelgänger des Dichters Dylan Thomas, mit wirrem Haar und Mondgesicht und fleckigem Pullover …«
    »Und unser Vater?«, fragen wir anderen Christofs alle zugleich.
    »Gabriel? Ganz einfach. Er wäre Houdini, der große Entfesslungskünstler. Zum ersten Mal in seinem Leben ruhig an einem Fleck. Eingewickelt in schwere Ketten, das Gesicht angespannt von der Atemnot, aber mit einer Miene der Überlegenheit, mit der Miene dessen, der weiß, es wird keine dreißig Sekunden dauern, bis er dank seiner Zauberkünste all die Ketten abgeworfen hat wie Spielzeuge. Und dann kann er fliehen.«
    Auf dieses Bild von Gabriel als Fluchtkünstler ist Chris allerdings nicht von alleine gekommen, sondern darauf hat uns wiederum Herr Ramon Riera Marcial, alias Petroli, gebracht. Das war, als er uns an einem Julisamstag für 13 Uhr zu sich bestellte – nach dem Mittagessen, denn die Deutschen, selbst die eingewanderten, essen sehr früh zu Mittag. Vor Jahrzehnten hatten ihm die Kollegen bei La Ibérica wegen seines Ticks, sich die Haare ölig schwarz zu färben, so schwarz, dass sie im Sonnenlicht bläulich schimmerten, den Spottnamen Petroli gegeben. Das Erste, was wir feststellten, als wir in sein Haus traten, war, dass entweder das ruhige Rentnerleben oder Ángeles’ Hartnäckigkeit ihn von der Färberei abgebracht haben musste. Ein dichter und sorgfältig gekämmter schlohweißer Schopf verlieh ihm ein ehrwürdiges, dabei sehr freundliches Aussehen. Er hätte unser Großvater väterlicherseits sein können.
    Vor lauter Nervosität waren wir zehn Minuten zu früh. Petroli und Ángeles führten uns in ein mit Gegenständen und Schmuckstücken überladenes Wohnzimmer mit Blick auf den Garten. In den folgenden

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