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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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die Schweiz absetzen konnten, waren all die Gegenstände, die sich Gabriel, Bundó und Petroli im Lauf von zehn Jahren internationaler Umzüge unter die Nägel rissen, nicht der Rede wert. Sollten wir sie eines Tages alle auf einmal ausstellen – so wie Petroli bei sich zu Hause, nur im großen Stil –, es würde wie ein Flohmarkt wirken. Und keiner könnte bei dem Anblick ahnen, in was für eine Hysterie die Beraubten ausgebrochen waren. Falls sie den Verlust bemerkten (was nicht immer geschah), kam die Beschwerde ein paar Tage nach dem Umzug, wenn die Familie sich im neuen Heim eingerichtet hatte und der Pegaso mit den drei Freunden schon zurück in Barcelona war. Rebeca, die Sekretärin, nahm den Anruf entgegen und kriegte das erste Donnerwetter ab, ehe sie den Hörer an Herrn Casellas weiterreichte. Der zweite Donner musste noch heftiger sein als der erste, denn danach stampfte der Chef von La Ibérica wutentbrannt aus seinem Büro, und sein Geschrei hallte in der ganzen Garage wider.
    »Petroli, Bundó, Gabriel! Es ist wieder passiert! Es ist wieder passiert! Ihr Nulpen! Sofort in mein Büro! Ipso facto !«
    Von seinem Sinn fürs Lächerliche befeuert, gebärdete sich Herr Casellas wie ein Boss im Comicheft. Doch meist, wenn er derart in die Luft ging, waren sie schon wieder mit dem Laster unterwegs, und es blieb Rebeca überlassen, seinen Zorn zu besänftigen. Erst ein paar Tage später, zwangsläufig mit kühlerem Kopf, konnte er sich die drei vorknöpfen. Gabriel, Bundó und Petroli spielten die Ahnungslosen. Ihr Repertoire an Ausflüchten und Alibis war reichhaltig und gewitzt, und dazu verstand es Bundó, ein derart unschuldiges Kindergesicht aufzusetzen, dass es den grausamsten Peiniger entwaffnet hätte. Da Casellas kein gutes Gedächtnis hatte, behielt er auch die Ausreden nicht lange im Kopf. »Entschuldigen Sie, aber diese Kiste, die verloren gegangen ist, hat sich nie in unserm Lkw befunden«, sagten sie ihm in sorgenvollem Ton. »Die Anschuldigung beleidigt uns, Chef: Wir würden es doch nie im Leben wagen, das Diplomatische Korps Spaniens zu bestehlen!« – »Es könnte dieser Alpenwanderer gewesen sein, der an der Schweizer Grenze das Paket abholen kam. Zum Kuckuck, den hätten wir besser im Auge behalten sollen.«
    Der Hinweis auf die Schweizer Geschäfte nahm Herrn Casellas jedes Mal den Wind aus den Segeln, und er entließ die drei mit der Forderung, dass es nie wieder zu solchen Verlusten kommen dürfe. »Wir heben die Sachen alle bloß zu unserm Schutz auf«, sagte Gabriel, als er mit unseren Müttern über die Beutestücke sprach. »Jahre vergehen, ohne dass wir einen Blick darauf werfen, und doch ist es uns wichtig, zu wissen, wo wir sie haben, in welchem Schrank oder in welcher Kiste. Damit wir sie, wenn uns mal die Wehmut oder die Panik packt, für eine halbe Minute zur Hand nehmen können, um sie dann wieder ein paar Jahre nicht anzurühren. Es ist doch so: Persönliche Gegenstände bewahren die Vergangenheit wie eine Reliquie, die uns vor dem Vergessen schützt, dem größten aller Übel. Vergessen werden will niemand. Eine Zeit lang lebte in der Pension von Frau Rifà ein Mann, der gegen Kriegsende sein Haus und seine Familie bei einem Brand verloren hatte. Ich habe nie wieder einen so wehrlosen Menschen getroffen. Zu dem Schmerz, dass er keine Familie mehr hatte, die ihn liebte, trat noch das Gefühl, völlig allein gelassen zu sein, weil ihm rein gar nichts blieb, was ihn mit seiner eigenen Geschichte verband. All seine Erinnerungen hatten sich in Rauch aufgelöst. Wenn er davon sprach, konnte man ihn für verrückt halten. Sein früheres Leben bestand nur in seinem Gedächtnis fort, und mit jedem Tag wurde es ein wenig blasser, wie die Farben eines Aquarells, das in einen Fluss fällt.«
    Unser Vater bemerkte beim Reden offenbar nicht, wie sehr seine eigene Situation der des Mannes ähnelte, dem alles verbrannt war. Sein von Geburt an ungefestigtes Leben, von der Säuglingsstation ins Waisenhaus, vom Waisenhaus in die Pension, hatte ihm selbst so gut wie keine fassbaren Erinnerungsstücke hinterlassen – doch darüber schien er sich nicht beklagen zu wollen. Vielleicht wirkten die angeeigneten Gegenstände bei ihm wie ein Beruhigungsmittel. Und das ist es ja im Wesentlichen, was wir Christofs von unserm Vater geerbt haben. Die verlorenen Koffer, die abgezweigten Pakete, die zufällig aus dem Laster gefallenen Kartons versahen ihn mit einem anderen, einem weniger traurigen

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