Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Zivilisationsstufe. Bald würden wir alle Alfredo Landa sein – den kennt ihr, oder? den Schauspieler – und eine hemmungslose Blondine im gestreiften Bikini umschwänzeln. In unserer Unschuld stellten wir uns vor, mit dem Lkw jenseits der Grenze zu arbeiten hieße, die Möbel am Fuß des Eiffelturms abzuladen, während drei Brigitte Bardots schon darauf brannten, uns mit einer Massage zu verwöhnen. In Wirklichkeit – tut mir leid, Christophe – sind wir in den zehn Jahren, die wir Umzüge nach Paris fuhren, kein einziges Mal auf dem Turm gewesen, haben ihn immer nur aus der Ferne gesehen.
Für uns drei entschied sich Casellas aus einem rein praktischen Grund, den er den anderen Arbeitern gegenüber als Rücksichtnahme tarnte. Bundó, Gabriel und ich waren alleinstehend, wir hatten keine Familie zu ernähren, keine Kinder großzuziehen. Uns würde an den Wochenenden niemand vermissen.
Dass es mit La Ibérica steil bergauf ging, war von den ersten Auslandsfahrten an zu spüren. Plötzlich ließ Herr Casellas die Büroräume renovieren, er stellte eine ausgebildete Sekretärin ein – Rebeca hieß sie, Beine und Taille wie Cyd Charisse und eine Engelsgeduld in diesem Hummelnest –, er kaufte ein Nachbargebäude auf, um die Garage im Carrer Almogàvers zu erweitern, und er ließ eine Europakarte an die Hauptfassade pinseln. Auf Anweisung des Chefs malte der Künstler Spanien übergroß, und aus diesem Land mit Elefantenkrankheit führten lauter rote Pfeile in den Kontinent hinein. Die sollten für die Schnelligkeit und Verlässlichkeit unserer Transporte stehen. In Wirklichkeit war unsere erste Karre, mit der wir anderthalb Jahre zurechtkommen mussten, weder schnell noch verlässlich. Sehr liebenswert war sie, das ja. Ein Pegaso Barajas, gebraucht gekauft, viel zu eng für drei Leute in der Kabine. Wenn es regnete, tropfte es von oben rein, und unten, neben dem Bremspedal, klaffte ein dickes Rostloch, sodass du, wenn du fuhrst, nachher immer das rechte Hosenbein voller Schlamm hattest. Und nach diesem fuhren wir andere alte Modelle bis zur Schrottreife, immer aus zweiter Hand. Erst Jahre später hatte Herr Casellas unsere Klagen und die ständigen Werkstattrechnungen satt und leistete sich ein nagelneues Flügelpferd, den Pegaso Europa 1065. Der lief wirklich gut, schien wie für uns gemacht. Zweiachs-Chassis, 9100er-Motor, 170 PS. Riesig breite Frontscheibe, wie ein Film in Cinemascope, und hinten in der Kabine sogar ein kleines Bett, wenn sich mal einer ausruhen musste. Man konnte zwanzig Tonnen zuladen, und wenn wir es schafften, den Laderaum bis oben vollzupacken, ließ der Motor ein tief zufriedenes Brummen hören. »Die Bestie ist bedient«, sagten wir dann.
Ihr werdet verstehen, dass es unmöglich wäre, alles im Kopf zu behalten, was in dieser Kabine im Lauf der Reisen geredet oder verschwiegen wurde. Zehn Jahre waren das, und in zehn Jahren auf der Straße sammelt sich einiges an Geschichten an. Das Gedächtnis kann darin blättern wie in alten Zeitungen, und von Zeit zu Zeit hält es auf einer Seite inne, weil ihm etwas ins Auge springt. »Muriel raubt Bundó das Herz in einer Raststätte« verspricht eine Schlagzeile. »Zwei Transportarbeiter setzen die gesamte Lkw-Ladung beim Kartenspiel ein und gewinnen zum Glück«, dazu gibt es einen Fünfspalter. »Ein spanischer Spediteur benutzt seine Möbelpacker, um Geld in die Schweiz zu verschieben«, so eine weitere Meldung. Gerade wenn man sie so zufällig herauspickt, können einem diese Sätze seltsam prophetisch vorkommen, und ich nehme an, auch ihr werdet sie im Kopf behalten. Aber es gibt noch eine andere Art von Erinnerungen, viel unscheinbarer, und trotzdem wollen sie nicht verschwinden, sondern überfallen mich immer wieder, aus heiterem Himmel. Zum Beispiel Bundós ruppige Art, zu schalten, als bräuchte er jeden Muskel seines Körpers, um den Gang zu wechseln. Oder meine Gewohnheit, die sie hassten – auf der Fahrt Sonnenblumenkerne zu essen und die Hülsen aus dem Fenster zu werfen. Wenn es windig war, blieben sie außen an der Scheibe kleben, das fanden die beiden eklig. Die endlosen Diskussionen, welche Tankstellen besser seien, die französischen oder die deutschen. Die noch endloseren Sitzungen, in denen wir uns Witze erzählten, die wir längst kannten, einfach um noch einmal gemeinsam darüber zu kichern. Die Phasen, in denen wir alle drei den Tick hatten, irgendeinen blöden Ausdruck dauernd zu verwenden. »Mach dir nich ins Hemd«,
Weitere Kostenlose Bücher