Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
dass unsere Leben und die Leben aller Menschen miteinander verknotet und ineinander verwoben sind auf eine mutwillige Art, die spielerisch wirken kann, vor allem aber widersinnig. Nimmst du dir vor, ein Ende des Fadens zu verfolgen, es aus dem Knäuel zu lösen und es dir einzeln anzusehen, so merkst du schnell, es hat keinen Zweck. Kaum sind wir geboren, fangen wir schon mit dem Verwickeln an. Damit erklärt sich auch das Paradox, dass in ein derart einzelgängerisches Leben wie das von Gabriel trotzdem so viele andere Menschen verflochten sind. Und in seinem Fall begann sich dieses Gewebe aus Wirklichkeit und Traum am Tag des Schneesturms in Mainz gefährlich zu verwirren.«
»Kannst du mir das bitte in normale Worte übersetzen? Mir schwirrt der Kopf von deiner Spintisiererei.« Cristoffini untermalt seinen Kommentar mit unmenschlichen Halsverrenkungen.
»Also. Ebenso fix wie Bundó das Herz-As ausfindig machte, hatte Petroli an dem Abend sein schlaues Büchlein konsultiert, die Liste mit den spanischen Treffpunkten. Am Rheinufer und in der Gegend von Frankfurt wimmelte es von solchen Orten, und so stieß er auf den Verein des spanischen Arbeiters in Rüsselsheim. Die Stadt lag bloß zehn Kilometer von der Autobahnausfahrt entfernt, da lohnte sich die Mühe. Weil es dunkel wurde und man zu zweit besser den Weg fand, bat Petroli ihn, mitzukommen.«
»Und so musste der arme Gabriel sich entscheiden zwischen den abgewrackten Huren und den traurigen Lemuren.«
»Zum Totlachen, deine Wortspiele. Soweit ich weiß, wollte unser Vater in solchen Momenten meistens alleine sein. Dafür genügte ihm ein beliebiger Rasthof, egal wie wenig einladend. Er aß dort etwas und holte danach, bei Kaffee und Zigaretten, die Karten hervor, um Patiencen zu legen, bis es an der Zeit war, zum Lastwagen zurückzukehren. Wenn die beiden anderen dann noch auf sich warten ließen, suchte er sich einen Radiosender, streckte sich auf der Pritsche aus und machte ein Nickerchen. So gefiel es ihm gut, zumal er eh nach dem Abendessen das Steuer zu übernehmen pflegte. Er sagte, das helfe ihm beim Verdauen. Manchmal allerdings, wenn ihm der Sinn doch nicht nach Alleinsein stand oder es zu kalt für den Pegaso war, schloss er sich einem der beiden Freunde an. Dabei versuchte er, keinen zu bevorzugen, und nicht selten entschied er, indem er eine Münze warf. Die sexuellen Ausflüge an der Seite Bundós waren geprägt von einer Fröhlichkeit, die ihn in seine Jugend zurückversetzte. Zudem konnte er den Busenfreund, wenn er mitging, am besinnungslosen Geldausgeben hindern. In seiner Begeisterung neigte Bundó zu maßloser Dankbarkeit und entsprechend großzügigen Trinkgeldern an die Mädchen, wobei er den Abgrund nicht bedachte, der zwischen den Peseten auf der einen und den Francs, D-Mark oder Pfund auf der anderen Seite klaffte. Petrolis Besuche in den Sammelbecken der Melancholie hingegen boten Gabriel die Möglichkeit zum Kartenspiel …«
»Sex oder Spiel, das war also die Wahl, die er hatte. Was für ein erbauliches Leben er führte, unser Herr Vater! Nun weiß ich, von wem ich das habe.«
»Mit den Leuten dort spielte er aber nicht um Geld. Und er schummelte auch nicht. Sobald er ankam, setzte er sich an einen Tisch, zog einen Satz spanischer Karten hervor und begann zu mischen. Die mächtige Präsenz des Schwertkönigs oder der hinterhältige Ausdruck des Goldbuben, auch als Goldhure bekannt, genügten, um zwei oder drei der Emigranten anzulocken. Und los ging es. Sie spielten Mus oder Remigio oder Botifarra, und im Hintergrund hörten sie – wie einen Fernseher, der in einer Bar läuft – den Singsang von Petroli, der den Landsleuten seine Geschichten auftischte. In diesen Situationen benahm er sich derart übertrieben, dass Gabriel und Bundó nicht umhinkamen, ihm später Vorhaltungen zu machen. Worauf er wiederum trotzig wie ein kleiner Bruder reagierte. Allerdings verliefen die Besuche auch nicht immer nach dem rustikalen Schema. Es kam vor, vor allem in Frankreich, dass die Emigrantenvereine stark politisch ausgerichtet waren, geprägt von Exilanten und Kriegsflüchtlingen. Dort wurden die beiden Freunde als Überlebende einer anderen Zeit empfangen, als Helden der Vergangenheit, die weiterhin der Hölle standhielten und den Kampf der Arbeiter in der Mutter Heimat fortführten. Gabriel und Petroli streckten dann ihre Brust heraus, wiederholten ihre drei Standardsätze über das Unterdrückersystem und überschütteten Herrn
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