Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Begegnungen von den Liebschaften zu unterscheiden, die ihr nur zur Selbsttäuschung dienten. Wenn es heute Männer in ihrem Leben gibt, haben sie keine Ähnlichkeit mit dem Stereotyp. Und Fragen machen ihr keine Angst mehr, auch nicht, wenn sie von ihrem Sohn kommen. Deshalb habe ich meine Neugier halbwegs stillen können. In jener Januarnacht 1965 in Rüsselsheim hatte sich eine Gesellschaft von Spaniern versammelt, um einen Freund zu feiern, der in Rente ging. Ein Galizier, über zehn Jahre zuvor nach Deutschland gekommen, mit einem der ersten Gastarbeiterbusse, und wie viele der Anwesenden schuftete er in einer Autofabrik. Republikaner und Klassenkämpfer durch und durch, hatte er sich die Mühe gemacht, so gut Deutsch zu lernen, dass er zum Sprecher seiner Landsleute im Betriebsrat werden konnte. Alle priesen ihn als Vorreiter unter den Emigranten in Deutschland – eine gute Begründung, um ein paar Flaschen Wein aufzumachen. Zu der Zeit hatte Sigrun gerade mit Soziologie angefangen und sich um die Mitgliedschaft beim SDS beworben. Eine Kommilitonin, die auch aus Spanien kam, lud sie zu der Feier ein. Es werde sicher sehr nett. Wenn der Galizier ein wenig getrunken hätte – und das tat er gern –, würden sie ihn von der kurzen, aber ruhmreichen Zeit der Zweiten Republik erzählen lassen, und sie würde Sigrun alles Wichtige übersetzen. Als dann Gabriel und Petroli aus dem Nichts auftauchten und das Lokal betraten, sangen die älteren Emigranten gerade die letzten Takte des Himno de Riego, der Hymne der Republik. Der Galizier stieß mit vor Rührung brüchiger Stimme ein ›¡Viva la República!‹ hervor, und alle klatschten Beifall. Danach wurde es still, und die zwei Ankömmlinge wünschten den ihnen zugewandten Gesichtern einen guten Abend. Petroli, von seinem sicheren Instinkt geleitet, rieb sich die Hände und setzte hinzu: »Was für ein Nächtchen, nicht wahr? Aber hier bei euch hat man’s ja wirklich gut!« Diese Worte wirkten wie ein Passierschein; die gut dreißig Versammelten hießen unsere Freunde mit offenen Armen willkommen. Sie stellten die üblichen Fragen, die beiden gaben die Antworten, die man von ihnen erwartete, und der Abend wäre heute nicht weiter erwähnenswert, hätten sie nicht, als sie sich nach anderthalb Stunden verabschiedeten und vor die Tür traten, festgestellt, dass die Temperatur auf minus zehn Grad abgesackt war und die Straßen unter einer Eisdecke lagen. Da man unter diesen Bedingungen mit dem Pegaso keine fünf Meter weit kam, organisierten die Emigranten Unterkunft für die spanischen Gäste. Um Petroli warben zwei Damen, die beide in einer Taschentuchfabrik arbeiteten: eine Witwe aus Altafulla und eine Alleinstehende aus der Gegend von Manises; die Witwe gewann natürlich, denn sie war älter. Gabriel nahm das Angebot einer scheuen und schweigsamen jungen Frau an. Sie trug Mütze und Schal aus dunkelgrüner Wolle und strahlte die blasse Selbstsicherheit derjenigen aus, deren Überzeugungen noch nie auf die Probe gestellt worden sind. Sie konnte kein Wort Spanisch, aber sie war hübsch, und ihre Beharrlichkeit hatte ihm geschmeichelt. Außerdem war sie vielleicht, gerade weil sie keine Spanierin war, diejenige aus der ganzen Gruppe, die ihm am wenigsten Angst machte.«
»Oho!«, ruft Cristoffini. »Was für ein großer Verführer, unser Vater! Es lebe das schlechte Wetter! Es leben die Eisstürme! Es lebe die stumme Liebe!«
»Sigrun und Gabriel verbrachten ihre ersten Stunden zusammen wie zwei Unbekannte, die sich auf ein Blind Date eingelassen haben. Von Rüsselsheim bis zu dem Außenbezirk von Frankfurt, wo sie wohnte, waren es fünf S-Bahn-Stationen. Auf der Fahrt kratzten sie ihre paar Brocken Englisch für die ganz einfachen Fragen zusammen. Bist du Studentin? Warst du schon mal in Frankfurt? Als sie in ihrem Zimmer waren, winzig und unaufgeräumt, wie es sich für eine Soziologiestudentin gehörte, goss Sigrun zwei Gläser Wein ein, und während sie ihm das Sofa zum Schlaflager herrichtete, versuchte sie sich weiter mit ihm zu unterhalten. Gabriels eigentümlicher Umgang mit der Sprache führte ein paar lustige Missverständnisse herbei. Sie mussten lachen, gestikulierten hilflos und mussten noch lauter lachen. Dann wurde es still. Wir haben ermitteln können, dass in der Erinnerung unseres Vaters zwei Kerzen auf dem Tisch brannten und nur wenig Licht gaben, gerade genug, um den Wein in einem besonders innigen Rot schimmern zu lassen. Sigrun streitet das
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