Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Drama gewesen sein muss, zum Arbeiten ins Ausland zu gehen, aber verdammt noch mal, auf die Weise kamen sie aus dem Franco-Spanien raus, das in den Fünfzigerjahren auch nicht gerade eine Varietéshow war.«
»Nein, ich hatte nicht die Absicht, folkloristisch oder pathetisch zu werden. Im Gegenteil. Was ich euch sagen wollte, bevor mir dieser Schmarotzer wieder ins Wort fiel, ist, dass der heutige Petroli, der als Rentner an der Nordseeküste lebt, fest daran glaubt, die Zeit habe ihm recht gegeben und dieses Spektakel der Gastarbeitertreffpunkte habe sein Leben letztlich in geordnete Bahnen gelenkt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich war er nach so vielen Jahren, die er mit dem Lastwagen umhertingelte (um es ganz genau zu sagen: im Februar 1972), längst eine Berühmtheit unter den Emigranten und im Begriff, sich in eine Karikatur zu verwandeln. Überall kannten sie seine Klagen und Plagen nur zu gut und fingen an, ihm aus dem Weg zu gehen. Zudem begannen die Tausenden Kilometer auf Achse ihn stumpf zu machen und ließen ihn vorzeitig altern. Und da lernte er, sozusagen bei einem Routinebesuch, im Centro Asturiano in Hamburg Ángeles kennen. Die gegenseitige Anziehung war so unmittelbar und heftig, dass er am nächsten Morgen, in aller Frühe und ohne es sich zweimal zu überlegen, Herrn Casellas anrief und ihm, zwischen Anfällen eines irren Gelächters, seine Kündigung mitteilte. Zur selben Zeit waren Gabriel und Bundó mit dem Pegaso schon auf dem Rückweg nach Barcelona. Casellas versuchte ihn umzustimmen, erst mit einem Appell an sein Verantwortungsbewusstsein, dann mit dem Zuckerbrot einer Lohnerhöhung. Petroli wiederum zeigte keine Hemmungen, das große Wort auszusprechen …«
»Welches Wort?«
»Das Wort. Du weißt schon.«
»Aber nein. Sag es, ich will es hören.«
»Darüber lustig machen willst du dich, das ist alles.«
»Nein, wirklich nicht. Welches Wort?«
»Liebe. Er sagte ihm, er habe die Liebe seines Lebens gefunden.«
»Ooooooh! Che bello! Amore !«
»Du bist widerwärtig, Cristoffini, und du hast keine Seele. Falls eines Tages der Teufel sie dir abkaufen will, wird er mit leeren Händen davongehen. Dein Inneres ist leer. Du bist ein Fass ohne Boden, ein Gletscher, ein Loch, das alles verschlingt. Soll ich weitermachen?«
»Weißt du, was ich meine?«, schießt Cristoffini zurück; man merkt, dass ihn die Beschimpfungen völlig kaltlassen. »Wenn ich keine Seele habe, dann, weil du sie mir geraubt hast, als du noch klein warst. Jedes Mal, wenn du deine Hand in mich hineinschobst, ganz ohne Leidenschaft, genau wie jetzt gerade, zwacktest du ein Stück von meiner Seele ab und behieltst es für dich. Du bist ein Dieb, nein, schlimmer als ein Dieb!« Er pausiert, um das Gift seiner Worte einsickern zu lassen. »Ist es das, was du willst? Dass wir hier vor unsern Brüdern schmutzige Wäsche waschen?«
Christof ist erstarrt. Mit hängenden Schultern und verlorenem Blick wirkt er plötzlich wie eine leblose Puppe. Cristoffini hebt hochmütig das Haupt, wie ein König nach der Krönung, und kostet seinen Sieg aus. Als die Stille zu drückend wird, klopft er Christof auf die Schulter, als wollte er ihn aus einem Nickerchen wecken, und sieht dabei hemmungslos selbstgefällig aus.
»Sei nicht kindisch, Brüderlein. Reg dich ab. Wir können es doch alle kaum erwarten, dir weiter zu lauschen. Also, du sagtest, Petroli verliebte sich in Ángeles.«
»Ja, ich sagte, er lernte sie bei einem dieser Emigrantentreffs kennen.« Christof spricht mit matter Stimme. »Aber davon abgesehen findet sich hier keine Übereinstimmung mit Petrolis üblichen erotischen Vorlieben. Weder war sie älter als er, noch verzehrte sie sich alle fünf Minuten nach der Mutter Heimat, noch hatte sie überhaupt Lust, nach Oviedo zurückzukehren.«
»Na prächtig. Bist du jetzt fertig, Rosamunde Pilcher? Entschuldige, entschuldige …« Christofs schlaffe Reaktion zeigt ihm, dass sein Sarkasmus nun fehl am Platz ist. »Ich wollte dich nur eins fragen: Was hat Petrolis Liebesleben mit jenem berühmten Schneesturmtag zu tun, der uns jetzt und hier beschäftigt?«
»Alles, Cristoffini, alles. Mal sehen, ob du es begreifst: Das Leben spielt immer so, wie du es nicht erwartest. Das ist ja gerade das Schöne daran, nicht wahr, Christofs?« Er will die Brüder auf seine Seite ziehen. »Wenn wir etwas mit Sicherheit sagen können nach all der Zeit, die wir nun versuchen, die Wege unseres Vaters nachzuzeichnen, dann,
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