Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Casellas mit Beschimpfungen, weil er sie ausbeutete. Wenn nötig, ließen sie noch die lange Liste ihrer Plagen folgen, auf endlosen Umzugsfahrten unter erbärmlichen Bedingungen und zu menschenunwürdigen Löhnen. Gabriel griff zudem auf die revolutionären Lehrstunden zurück, die ihm Lluís Salvans in der Pension in Barcelona erteilt hatte, und erwähnte dabei auch seinen Namen; vielleicht fand sich ja ein alter Kämpfer der anarchistischen FAI oder der CNT, der ihn kannte und wusste, was aus ihm geworden war. Die Emigranten lauschten und nickten, mal mitleidig, mal kriegerisch. Danach griff unweigerlich einer zur Gitarre, und alle zusammen stimmten sie ein paar tröstliche Lieder an. Sie sprangen von Cucurrucucú Paloma zu España es la emperaora, von einer Hymne der Republik zu Asturias, patria querida. Zum Schluss spielten sie immer ein Lied über Emigranten und stießen mit den neuen Gefährten auf die Freundschaft an und darauf, dass Franco verdammt noch mal endlich abkratzen möge.«
Cristoffini hebt die linke Faust und summt die ersten Takte von Bella ciao. Schwer zu sagen, ob er sich lustig macht, jedenfalls bietet sich ein seltsames Bild. Christof hält ihm den Mund zu, doch das Summen ist immer noch leise zu hören. Als er nicht mehr kann, weil er keine Luft mehr bekommt, beißt Cristoffini zu. Für einen Moment sieht es aus, als verfärbten Blutstropfen Christofs Handfläche.
»Sigrun, meine Mutter«, fährt er fort und bemüht sich, Cristoffini zu ignorieren, »die als junge Frau politisch sehr aktiv war, erinnert sich, dass Petroli und Gabriel bei dergleichen immer schnell müde wurden und, sobald es nicht mehr zu unhöflich schien, eine Ausrede erfanden, um sich zu verabschieden. Sie waren zu erschöpft von der stundenlangen Fahrerei, als dass ihnen noch der Sinn nach einer längeren Sitzung zum Thema libertäre Theorie gestanden hätte. Sigrun weiß es aus eigener Anschauung, denn genau an dem Schneesturmabend, als Petroli und Gabriel zum Verein des spanischen Arbeiters in Rüsselsheim gingen, war sie mit einer Freundin dort zu Besuch.«
»Jetzt! Endlich! Gabriels Sacktierchen lassen den Motor aufheulen und machen sich startklar. Christof, schon ganz so, wie wir ihn von seinen späteren Existenzkrisen her kennen, ist noch nicht, aber steht kurz davor, zu sein. Erzähl es uns, los – erzähl dich!«
»Vorweg muss ich sagen, dass das Alter und die Enttäuschungen meine Mutter etwas empfindlich gemacht haben, was diese Erinnerungen betrifft. Als sie schwanger wurde, war sie eine einundzwanzigjährige Studentin. Ich will euch nicht mit ihrem Lebenslauf ermüden, aber erwähnt sei, dass sie in Frankfurt Soziologie belegte, Vorlesungen bei Habermas hörte und Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund war. Sie war auch einmal bei einem Abendessen mit Angela Davis dabei, und ich möchte nicht ausschließen, dass sie sich, wenn ich ihr nicht dazwischengekommen wäre, in die Baader-Meinhof-Gruppe verheddert hätte. Als ich geboren war, begann sie in der Universitätsbuchhandlung zu arbeiten. Sie brauchte dringend Geld. Ihre Eltern, deren einziges Kind sie war, kamen über den Skandal der viel zu frühen Schwangerschaft nicht hinweg, und die Studienförderung, die sie erhielt, reichte nicht aus, um uns beide über die Runden zu bringen. Sie ging weiter zur Uni, so gut sie konnte, und versuchte, Gabriel zu vergessen. Aber jedes Mal, wenn sie es fast geschafft hatte, sich diesen Fernfahrer aus dem Kopf zu schlagen, stand er plötzlich wieder vor der Tür und füllte ihr den Hoffnungsspeicher auf … Entschuldigung. Sigrun war in einem Teufelskreis gefangen. Als der Vater schließlich aufhörte, uns zu besuchen, verwandelte sich ihr Liebesleben in eine Prozession von Männern. Es lebe die sexuelle Befreiung! Die Namen und Gesichter verbinden sich zu einem stereotypischen Porträt des jungen männlichen Deutschen der späten Sechzigerjahre, dem Anschein nach ganz offen und kritisch. Und hinter der Fassade zeigt sich ein ernster und eigenartiger Jüngling, politisch aktiv oder auch nicht, mit hoher Bereitschaft zum Geschlechtsverkehr, der aber unweigerlich die Flucht ergreift, sobald er erfährt, dass dieses knackige und belesene Mädchen schon ein Kind aus eigener Ernte hat.«
Christof macht eine Pause, um tief einzuatmen. Mit einem Schlag in den Nacken weckt er Cristoffini, der daraufhin laut gähnt.
»Es dauerte also einige Jahre«, fährt er fort, »bis Sigrun lernte, die wirklich wichtigen
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