Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
ab, es sei zu kitschig, und sie ertrage keinen Kitsch. Wie auch immer, weiter als bis zu diesem Punkt konnte ich nicht vordringen. Sie weigert sich. Wir können nun bloß die Kerzen ausblasen und die deutsche Studentin und den heimatlosen Fernfahrer im Dunkeln lassen. Sollen sie zur Sache kommen.«
»Nee, nee, nee, wer hier zur Sache kommen soll, bist du, Christof! Du in deiner Essenz. Beweg dein Schwänzchen einer auserwählten Spermie, na los! Darf ich die Szene ausmalen?«
»Auf gar keinen Fall!«
»Während sie so über dies und jenes reden« – Cristoffini imitiert Christofs bedächtige Redeweise –, »ist es unversehens drei Uhr morgens geworden. Beide denken bei sich, dass es per Körpersprache besser mit der Verständigung laufen würde. Gabriel und Sigrun sagen sich Gute Nacht und schauen sich dabei in die Augen …«
»Nein habe ich gesagt! Schluss damit. Wir machen nun einen Zeitsprung von einem Jahr und zehn Monaten.«
»Das gilt nicht! Das ist geschummelt!«
»November 1966!«, schreit Christof, um sich durchzusetzen. »Ich bin schon auf der Welt. Ich kann schon laufen. Ich bin neugierig. Ich zerstöre Dinge. Ich heische um Liebe. Die Mutter arbeitet, studiert, liest, macht mir Fläschchen und wechselt mir die Windeln und kommt zu nichts anderem mehr. Die Wochenenden sind für uns beide eine Wohltat, denn da können wir zusammen sein und spielen. Es ist Freitagabend, wir sind zu Hause. Vor einer halben Stunde hat sie mich in der Kindergruppe abgeholt. Sie ist noch im Mantel, als es an der Tür klingelt. Sie öffnet, und draußen steht Gabriel, mein Vater. Sie erkennt ihn auf Anhieb, bringt aber kein Wort heraus. Sie schauen sich an. ›Wir hatten wieder einen Umzug nach Frankfurt‹, bemüht er sich zu erklären, ›und sind zeitig fertig geworden. Ich hatte deine Adresse dabei und dachte mir, ich lasse mich mal blicken. Es ist so lange her.‹ – ›Komm rein.‹ Es folgt eine Szene, die fast ein Déjà vu ihrer ersten Nacht ist. Im engen Eingang der Wohnung ziehen sie sich beide gleichzeitig den Mantel aus und stehen einander dabei im Weg, doch es ist ein angenehmes Gefühl. Der Unterschied liegt darin, dass nun ich auf der Bildfläche erscheine. Ich komme aus der Küche gewackelt, starre diesen großen, schlanken Herrn an, der seinerseits erstarrt, und meine Mutter radebrecht: ›Gabriel, este es el tuyo hijo. Él ha nacido por noviembre. El año pasado.‹ In den wenigen freien Momenten in den Monaten zuvor hat sie mit einem Lernheft von der Berlitz-Schule versucht, sich ein bisschen Spanisch anzueignen.«
»Moment mal!«, schreit Cristoffini: »Wie konnte Gabriel denn sicher sein, dass du sein Sohn bist?«
»Genau diese Frage stellte er ihr, sobald der erste Schock überwunden war. Man muss verstehen, dass er nur einen kleinen Besuch vorgehabt hatte. Vielleicht mit irgendwelchen sexuellen Hoffnungen verknüpft, aber keineswegs mit der Absicht, etwas Dauerhaftes daraus zu machen. ›Nimm es mir nicht übel‹, sagte er, ›aber woher weißt du, dass das Kind von mir ist?‹ Da hatten sie mich schon ins Bett gebracht. Es hätte tausend Möglichkeiten gegeben, auf diese Frage zu antworten, vom Drama bis zum Sarkasmus, aber Sigrun wählte die folgenden Worte: ›Weil er Christof heißt.‹ Und da gab es keinen Zweifel mehr. ›Mach dir keine Sorgen, du musst dich nicht für ihn zuständig fühlen‹, beruhigte sie ihn, als sie sah, was für ein Gesicht er machte. ›Nein, nein, ich bin sehr froh‹, stammelte er. Die Mutter sagt, er sei wirklich gerührt gewesen, und dann feierten sie seine Vaterschaft. Nun aber müssen wir für einen Augenblick wieder in die erste Nacht zurückspringen, um zu sehen, wie das Mysterium der Christofs damals aufschien. Das Kerzenlicht tanzt im Weinglas (lassen wir es zu, Mutter), Worte und Gesten haben einen alkoholischen Schwung angenommen. Das unmögliche Gespräch schlingert von einem Gegenstand zum nächsten, und so fragt Sigrun Gabriel, ob er Kinder habe. Er tastet seine Brust ab wie jemand, der merkt, dass man ihm die Brieftasche aus der Jacke geklaut hat, und erwidert energisch: ›Nein, nein.‹ Danach aber sagt er, falls es eines Tages dazu käme und er einen Sohn hätte, so müsste der Cristòfol oder Cristóbal heißen. Er nimmt sich einen Bleistift und einen Notizblock, die Sigrun auf dem Tisch liegen hat, und schreibt die beiden Namen auf. Sie spielt mit und notiert darunter zwei deutsche Versionen: Christoph und Christof. Da sind wir ganz nah am
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