Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Mutter mir dieses Kanalabenteuer erzählte, also seit meinem dreizehnten Geburtstag, begleitet mich das Bild wie ein Mal auf der Haut oder eine Tätowierung auf der Seele. Manchmal denke ich, jeder Mensch sollte wissen, was seine Eltern unmittelbar vor seiner Zeugung gemacht haben. Ich meine nicht, als sie fickten oder sich liebten oder wie man es eben nennen möchte, sondern in den Stunden davor. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir schon mit diesem Wissen zur Welt kämen. Dann würden wir uns selbst besser verstehen.
Wie auch immer, an jenem Oktobertag im Jahr 1966 kam die Viking III mit fünf Stunden Verspätung und einem komplett aufgebrauchten Vorrat an Pillen gegen Seekrankheit im Hafen an. Opfer waren nicht zu beklagen. Die LSD-Anna, die auf Sans Merci in die Unendlichkeit ritt, war zwar überzeugt, sie würden am Bug des Schiffes über Bord springen und dann bis zu den weißen Klippen von Dover über die Wogen fliegen, aber das Pferd zeigte mehr Verstand als sie. Als sie den Rand des Decks erreicht hatten, bog es scharf nach links ab und übersprang eine niedrige Barriere, um weitertraben zu können. Von diesem Moment an übersprang oder umtänzelte es alles, was ihm in den Weg kam. Das Deck wurde ihm zum Parcours. Am Ende der zweiten Runde brachte Ibrahim es zum Stehen. Es bäumte sich kurz auf, Ibrahim umarmte es, als ob es sein Kind wäre, und schrie zugleich Anna an, so lange, bis sie abstieg. Ihr war nicht bewusst, dass sie nichts anhatte. Sarah nahm sie eilig mit hinein, um sie auf Anzeichen von Unterkühlung zu prüfen, doch sie war ja jung und zeigte prächtige Vitalfunktionen.
Fünf Minuten später klopfte Gabriel an die Tür des Krankenzimmers. Er brachte Annas Kleider mit. Die Wirkung der Droge war bei ihr so gut wie verflogen, und nun sollte ein Beruhigungsmittel sie daran hindern, sich zu sehr zu schämen. Sarah half ihr beim Ankleiden. Mit aufgesetzter Strenge bat Gabriel Anna um den Gefallen, wieder an Deck zu gehen und Bundó zu suchen. Er müsse kurz hier unten bleiben und ein paar Papiere unterzeichnen.
Die Fähre legte in Dover an, doch Sarah und Gabriel brauchten noch über eine halbe Stunde, ehe sie aus dem Krankenzimmer wieder auftauchten. Sie hatten Unmengen von Papieren zu unterzeichnen. In der Zeit waren schon alle Fahrzeuge von Bord gerollt. Bundó hatte Monsieur Champion die Rechnung begleichen lassen. Nun wärmte ihm ein Batzen Francs die Taschen, und der Sieg fühlte sich an wie eine Rache an all den Franzosen, die je in Muriels Bett gewesen waren. Sans Mercis Besitzer hatte das Geld nur widerwillig herausgerückt, wenngleich er so tat, als mache es ihm nichts aus, und dann hatte er geschworen, man werde sich in nicht zu ferner Zukunft auf eine Revanche treffen. »Darauf habe ich ein Recht!«
Anna hatte sich unterdessen von dem französischen Brüderpaar verabschiedet, hatte ihnen viel Glück für ihr musikalisches Abenteuer gewünscht (von ihnen wissen wir nichts weiter, nicht einmal, ob sie die süßesten Tage der Carnaby Street jemals zu kosten bekamen), dann war sie im Lkw eingeschlafen.
Wegen der Verspätung der Fähre konnten Bundó und Gabriel den Umzug erst am folgenden Morgen erledigen, einen Tag später als vorgesehen. Herr Casellas murrte am Telefon, doch Gabriel hatte ja die beste Entschuldigung parat: »Wir können mit dem Laster schneller fahren, aber gegen die Naturgewalten sind wir machtlos. Für das Unwetter, das wir durchlitten haben, Señor Casellas, müssten Sie uns eine Gefahrenzulage zahlen.«
Sarah, die nun zwei Tage freihatte, bot an, Anna Miralpeix in die Klinik zu begleiten. Als Krankenschwester konnte sie dort über Nacht bei ihr bleiben, was andernfalls Gabriel oder Bundó hätten übernehmen müssen.
Als Anna an dem Morgen aus einem besonders ruhigen Schlaf erwachte, während die beiden Männer schon Möbel entluden, war sie ein neuer Mensch. Das mystische Erlebnis mit dem Pferd hatte in ihr einen ungekannten Mutterinstinkt geweckt. Auf der Fahrt ins Krankenhaus lag sie ausgestreckt auf der Pritsche hinter den Sitzen des Pegaso, und die Zweifel nagten an ihr.
Fünf Monate später, Mitte März, überquerte La Ibérica erneut für einen Umzug nach London den Kanal, diesmal ohne Abtreibungsauftrag. Sobald sie an Bord der Viking III waren, suchten Bundó und Petroli alles nach Monsieur Champion und seinen leicht zu erbeutenden Francs ab, doch sie hatten kein Glück. Gabriel ging geradewegs zum Krankenzimmer und klopfte an die Tür. Als Sarah
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