Die italienischen Momente im Leben
MORGANAS
2008
Als ich neulich im Internet surfte – wir Italiener lieben das Internet, um immer auf dem Laufenden zu bleiben –, stieß ich auf eine lebhafte Diskussion über Geisterstädte in China. Jenseits eines Flusses waren wohl wie aus dem Nichts Häuser, Bürogebäude, Bäume und Berge aufgetaucht, die vorher nicht da gewesen waren. In einen dichten Nebel gehüllt, was den gespenstischen Eindruck vervollständigte.
Ein beunruhigendes Phänomen, das durch viele Aufnahmen dokumentiert wurde.
Schnell konnte man im Internet dazu auch eine wissenschaftliche Erklärung nachlesen: Die geheimnisvolle Erscheinung sei nichts anderes als das Ergebnis eines seltenen, in Ostchina aber anscheinend öfter vorkommenden Naturphänomens, das immer dann auftritt, wenn die feuchte Luft eine höhere Temperatur hat als die darunter liegenden Gewässer.
Das Erscheinen der »Geisterstadt« nach langen und heftigen Regenfällen war also nichts anderes als eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung – die Stadt gab es tatsächlich, nur eben nicht an jener Stelle, sondern auf der anderen Seite des Flusses.
Allerdings hat China durchaus auch reale Geisterstädte aufzuweisen. Man schätzt, dass dort pro Jahr mindestens zwanzig Städte von enormen Ausmaßen neu errichtet werden, die dann vollkommen leer stehen.
Doch eigentlich muss ich gar nicht erst im Ausland suchen, denn auch in meinem Land gibt es viele solcher Geisterstädte, Gemeinden, die einst wuchsen und gediehen und heute verlassen sind.
Eine der berühmtesten ist ein kleiner Ort in Südtirol, der in den Fluten des Reschensees versunken ist. Aus dem See schaut nur noch der Kirchturm heraus, das einzige Zeichen von jenem Leben, das früher einmal in dem nun unter der Wasseroberfläche liegenden Graun herrschte. Bis 1950 gab es im Reschental drei Seen: den Reschensee, den Mittersee und den Haidersee. Für das große Staudammprojekt, das die ersten beiden Seen vereinte, wurde das Dorf geflutet, und seine Bewohner mussten umsiedeln.
Es heißt, dies sei einer der meistfotografierten Orte in Italien, viele Leute wollen den »Kirchturm, der sich aus dem Wasser erhebt«, aus der Nähe sehen, den Zeugen einer ungeheuerlichen Tragödie, obwohl sie im Namen des Fortschritts geschah. Die in Rom beschlossene Errichtung des Staudamms und die brutale Durchsetzung des Projekts schürten die Ressentiments gegen die »Italiener«, denn obwohl diese Region eindeutig zu Italien gehört, ist überall in Südtirol immer noch deutlich eine mehr oder minder latente Italienfeindlichkeit zu spüren.
Als Jutta und ich auf jener Fahrradtour, aus der später ein Buch [1] entstehen sollte, ins Vinschgau kommen, trauen wir unseren Ohren kaum. Im Dorf heißt es, an manchen Tagen im Winter könne man noch die Glocken des Kirchturms hören, die vom Grunde des Sees geläutet werden.
Bei unserem Aufbruch aus Deutschland hatte ich mir fest vorgenommen, diesen Ort zu besuchen, denn mich faszinierte die traurige und auch ein wenig morbide Geschichte der Geisterstadt. Doch es ist schwer zu beschreiben, was ich fühlte, als ich dann tatsächlich am Ufer stand, welchen Eindruck dieser Anblick in mir hinterlassen hat. In Graun war mir, als hätte ich wirklich den Ort aus meinen Träumen gefunden, »den ich schon immer einmal besuchen wollte«. Sicher, das alte Graun gibt es nicht mehr, bis auf den Kirchturm wurden alle Häuser abgerissen, doch man muss nur ein wenig an diesem besonderen Ort verweilen, um zu verstehen, dass manchmal auch Unglaubliches geschehen kann. Versuchen Sie es. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, schauen Sie zu dem alten Kirchturm hinüber. Vielleicht sehen Sie ja auch, wie sich der alte Ort über den Wassern erhebt ...
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Doch Südtirol hat noch vieles mehr zu bieten als Kirchtürme, die im Wasser versunken sind. Beeindruckend ist vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die Leute in Einklang mit der Natur leben, ihre Fähigkeit, das, was sie haben, mit Respekt zu behandeln. Wenn man nach Südtirol kommt, wird einem sofort bewusst, dass Themen wie Nachhaltigkeit, Tierschutz, Artenvielfalt hier keine Fata Morgana, nicht bloß leeres Gerede sind, sondern der direkte und natürliche Ausdruck einer hier seit Jahrhunderten verwurzelten Mentalität. Und das gastronomische Angebot entspricht in seiner Geradlinigkeit und Ursprünglichkeit dieser Philosophie.
Im Vinschgau zum Beispiel geht nichts ohne Äpfel! Ob Sie zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto unterwegs sind, auf ausgebauten
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