Die italienischen Momente im Leben
meine Güte, was haben wir gelacht bei ›Säg die Alte durch‹. Erinnerst du dich, Albiò? Natürlich konnte man die Schwiegermutter nicht wirklich umbringen, deshalb gab es da dieses Spiel ... man fällte eine Eiche, das war dann die Alte, und ritscheratsche sägte man die entzwei … weißt du noch, Albiò, war das lustig …«
»Aber, Dino, sag mal, die Schmalzkringel meiner zukünftigen Schwiegermutter, du weißt schon, die mit Vin Santo getränkten, die hast du doch immer gern gegessen, oder?«
»Ja natürlich! Aber wenn sie uns beide zum Dreschen in der Tenne gerufen hat, hast du dich nie blicken lassen. Du hast dich doch nicht zufällig mit Gisa in irgendwelchen Ecken herumgedrückt?«
»Du Trottel … Ich war beim Maiskornorakel!«
»Maiskornorakel? Was ist denn das, Signor Albione?«, frage ich ihn.
»Heilige Jungfrau! Das Maiskornorakel ist berühmt, das kennt jeder hier in der Toskana! Es war wunderbar, da wurde nicht nur ordentlich gepichelt, sondern es verschaffte dir vielleicht die Möglichkeit … wie soll ich es ausdrücken … wenn du Glück hattest, hast du den ganzen Abend den Dreschflegel geschwungen. Das Orakel funktionierte so ähnlich wie dieses Spiel ›Sie liebt mich, sie liebt mich nicht‹, nur eben mit Maiskörnern … Wissen Sie, was ich meine? Und wenn einem ein Maiskorn in der Hand übrig blieb, hieß das, dass man heiratete. Schön, nicht?«
Auch die Hochzeiten waren in Monticchiello feierliche Anlässe.
»Alle Frauen mussten heiraten. Früher oder später war jede dran. Wenn nicht, bekamen sie den befano … weißt du noch, Mecacci?«
»Ja, ich erinnere mich an Minolfa, die Schwester von deiner Gisa … die Ärmste, wie oft haben wir ihr den angehängt!«
»Einen Moment, warten Sie, ich kann Ihnen nicht folgen, erklären Sie mir genauer, was es mit diesem befano auf sich hat …«
»Na ja, das war nicht gerade nett für die Betroffene … aber ein Riesenspaß für den, der ihn aufhängte, was, Dino? Hahaha. Der befano war eine Puppe, die man an einem Baum befestigte … aber erzähl lieber du, Bruder!«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen … Wenn man sich über eine Frau, die von ihrem Verlobten oder Ehemann verlassen wurde, lustig machen wollte oder über eine alte Jungfer, die keiner haben wollte … hängte man diese Puppe vor ihrem Haus an einen Baum!«
Ich nehme wieder das Mikrofon: »Signor Albione, was denken Sie über das heutige Leben in Monticchiello? Trauern Sie außer Weihnachten, dem Karneval und dem befano noch etwas nach?«
»Wir hatten ein hartes, aber doch auch schönes Leben. Es stimmt schon, die Zeiten ändern sich, und es ist ja richtig, dass der technische Fortschritt inzwischen überall dort angekommen ist, wo vorher alles ganz schlicht und einfach war, wo das Klo hinter der Scheune lag und man nur einmal in der Woche gebadet hat, wenn überhaupt! Aber gerade das würde ich gern den Leuten zeigen, die hier in den Agriturismi Urlaub machen.«
Am Tag nach der Aufführung besuche ich das Museum Tepotratos. Dunkelheit umfängt mich beim Eintreten, und wenn meine Füße beim Gehen bestimmte Sensorpunkte auf dem Boden berühren, leuchten an den Wänden um mich herum Bilder von der Arbeit, von ländlichen Festen, ja, die Hoffnungen und Träume vergangener Zeiten auf. Der Besucher wird zum Archäologen, der eigenhändig, beziehungsweise mit seinen eigenen Füßen, eine immer noch lebendige bäuerliche Vergangenheit ausgräbt. Als ich in dem Raum mit dem Brunnen und denMonaten auf die Messingplakette für Februar trete, sehe ich den Scherz von der »durchgesägten Alten« vor mir. Ich setze den Fuß auf den Januar, und da baumelt auch schon der befano , ihn umringen viele als Befana verkleidete Männer. Im nächsten Raum komme ich zu einer Eiche – aber ihre Äste ruhen auf dem Boden, und die Wurzeln ragen hoch auf in die Luft. Dieser Baum, Ausdruck einer Welt, die auf dem Kopf steht, überliefert und beschützt alle Erinnerungen der Gemeinde. Und diese Erinnerung steigt auch heute noch von den Wurzeln herab, gelangt durch den Stamm über die Zweige zu uns auf die geheiligte Erde von Monticchiello und seinem Teatro povero .
22.
SAN FRUTTUOSO
2004
Wenn man die kleine, höchst romantisch am Fuß einer steilen Klippe gelegene Bucht von San Fruttuoso besuchen möchte, hat man nur zwei Möglichkeiten: zu Fuß oder übers Meer. Dieser Ort ist nämlich weder mit dem Auto noch mit dem Zug erreichbar. Hat man also keine Lust auf eine lange und anstrengende
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