Die italienischen Momente im Leben
Komparsen bestückt, aber die Szenen vom Pferderennen wurden schon im vorigen Jahr aufgenommen. Zum Glück, denn ich mag den Palio nicht, wie eigentlich alle anderen Wettkämpfe, in denen Tiere gequält werden oder zu Schaden kommen. Jemand soll vorgeschlagen haben, man könne den Palio ja woanders, zum Beispiel auf einer Rennbahn, austragen, doch die Antwort war: »Dann wäre es doch nicht so folkloristisch.«
Ich werde jetzt aber meine natürliche Abneigung gegen alles, was mit dem Palio zu tun hat, überwinden und versuchen, Ihnen zu erklären, was dieses »Folklorespektakel« tatsächlich für meinen Freund aus Siena bedeutet. Der ist natürlich, wie jeder Einwohner der Stadt, ein contradoiolo, also ein Angehöriger eines bestimmten Viertels, die hier Contrada heißen und zumeist Tiernamen tragen.
Der Ort der Geburt bestimmt über die Zugehörigkeit zu einem Viertel. Das ist nicht nur eine romantische Vorstellung, der Palio zieht sich wirklich durch das ganze Leben eines Sienesers. So gibt es beispielsweise neben der kirchlichen Taufe eine weltliche im Brunnen der Contrada, mit der die lebenslange Zugehörigkeit offiziell besiegelt wird. Und welches Büro oder Arbeitszimmer man auch betritt, man wird immer irgendein Zeichen sehen, zu welcher Contrada der dort Beschäftigte gehört: Fotos, Zeichnungen, Trinkflaschen, Kissen, Maskottchen ... Selbstverständlich gibt es auch Klingeltöne mit der Hymne der jeweiligen Contrada, entsprechende Hintergrundbilder für den Computer und in vielen Mailadressen findet sich ihr Name wieder. Was man also in den wenigen Tagen des eigentlichen Palio sieht, ist nur die »Summe« der Gefühle, Emotionen, Hoffnungen und Sorgen, die die Bürger Sienas ein ganzes Jahr lang umtreiben.
Wer die Meinung vertritt, Palio sei nur Folklore oder ein Touristenspektakel, sollte sich einmal die Zeit nehmen (so wie ich es getan habe) und ein paar Wochen an der Seite eines waschechten Sienesers verbringen, keine Fragen stellen, sondern nur Augen und Ohren offen halten. Dann würde er verstehen, warum sich Männer und Frauen, egal ob jung oder alt, arm oder reich, aus Freude über einen Sieg oder Trauer über eine Niederlage heulend in den Armen liegen. Der Palio ist ein archaisches Relikt, er hat unverändert all die Jahrhunderte überdauert und wird heute noch von den Sienesern mit jeder Faser ihres Körpers erlitten und erlebt.
Contradoioli sind ein merkwürdiges Völkchen. Das ganze Jahr wird auf diese schicksalhaften Tage im Juli und August hingefiebert, in denen sie höchste Freude und tiefstes Leid erleben, sodass sie sich manchmal selbst verfluchen, in dieser Stadt geboren zu sein. Sie freuen sich über einen Sieg, aber vielleicht sogar noch mehr über die Niederlage einer verfeindeten Contrada. Wenn sie gewonnen haben, danken sie der Madonna, indem sie mit Fahnen und unter lauten Trommelwirbeln in die Kirchen ziehen. Sie führen sogar die Pferde zur Segnung in die Kirchen und beten darum, das Tier möge während des Gottesdienstes sein Geschäft verrichten, das soll anscheinend Glück bringen. Diese Menschen können sonst die freundlichstenGastgeber der Welt sein, aber wenn sie im entscheidenden Moment auf der Piazza del Campo stehen, verwandeln sie sich und sind nicht mehr ansprechbar. Hat aber ihre Contrada gewonnen, zeigen sie sich großzügig und geben jedem einen aus. Falls sie allerdings verloren haben ... sollte man ihnen besser aus dem Weg gehen.
Ich möchte Ihnen ein paar Geschichten vom Palio und den Contraden erzählen, die dieses Phänomen noch besser beleuchten:
Die Contrada der Chiocciola ( Schnecke) ist berühmt für eine Episode, die sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts zugetragen haben soll. Der mugnaino , also der Jockey des Viertels, ließ sich beim Palio am 2. Juli 1896 im Finale überrunden, was den Zorn eines contradoiolo hervorrief. Nachts ging er in den Stall der Contrada, riss ein Bildnis des heiligen Antonius von der Wand und warf es voller Wut in den Brunnen. In den Folgejahren verlor die Contrada der Schnecke immer wieder, oft erst im Finale, und viele waren der Meinung, das läge nur daran, dass der Mann das Heiligenbild ins Wasser geworfen hatte. Nach so vielen unglücklich verlorenen Rennen organisierten die Frauen des Viertels im Jahr 1910 eine Spendenaktion, um den Brunnen trockenzulegen und das Heiligenbild wiederzubeschaffen. Nach der erfolgreichen Bergung und Restauration des Gemäldes wurde der Schnecke im nächsten Jahr das beste Pferd zugelost,
Weitere Kostenlose Bücher