Die Jaeger der Nacht
eigenen Schatten flüchten. Manchmal packt eine Böe die Kutsche und pfeift gespenstisch triumphierend durch die Ritzen.
Ein dichtes Wolkenband schiebt sich vor die Sonne. Einige Strahlen brechen durch den dunstigen Nebel, bevor sie ganz erlöschen.
Das Weite sinkt in die graue Dunkelheit der aufziehenden Nacht.
Ben legt ängstlich seine Hand auf meinen Oberschenkel, pummelig und arglos.
Ich betrachte sie. Wir fahren über einen Hubbel und er rutscht noch näher an mich heran.
»Es ist okay«, erkläre ich ihm.
»Was?«
»Es ist okay«, rufe ich, »alles wird gut.«
Er blickt zu mir auf, die Lippen gespannt und Tränen in den Augen. Zwei kullern über seine staubigen Wangen. Er nickt ein-, zweimal, ohne die Augen von mir zu wenden.
Irgendetwas in mir zerreißt. Ich wende den Blick ab.
Sei schnell.
Es ist eine Sache, etwas wie das hier zu planen, aber eine ganz andere, es auch durchzuziehen.
Vergiss nie.
Mit einem Ruck an den Zügeln bringe ich das Pferd zum Stehen. Ben sieht mich an. »Hey«, sage ich und starre stur geradeaus, »du musst hinten in die Kutsche steigen.«
»Da ist kein Platz.«
»Doch. Da ist Platz. Das letzte Stück muss ich alleine fahren, okay?«
»Warum sind wir stehen geblieben?«, fragt Epap und lehnt sich aus dem Fenster.
»Er kommt zu euch nach hinten«, sage ich nüchtern. »Hier oben ist kein Platz.« Ich springe vom Kutschbock und mache Ben ein Zeichen, mir zu folgen.
»Hier drinnen ist auch kein Platz«, erwidert Epap. »Bis jetzt seid ihr doch auch prima klargekommen.«
»Warum hältst du nicht einfach die Klappe?«, brülle ich.
Daraufhin steigen sie aus, Spannung liegt in der Luft. Ich sehe David und Jacob an, die neben Epap stehen. »Brauchst du immer Verstärkung, wenn du dich mit jemandem anlegst?«, frage ich.
»Halt’s Maul!«, brüllt Epap.
»Ruhig, Epap«, sagt Sissy und steigt aus der Kutsche, »er will dich nur provozieren.«
»Und muss sie dir jedes Mal sagen, was du tun sollst?«, frage ich.
Er will sich auf mich stürzen – ich sehe, wie er mit herabgezogenen Mundwinkeln zum Sprung ansetzt –, als ein Hornsignal über die Ebene schallt. Es kommt von Westen, aus der Richtung des Instituts.
Einen Moment lang sind wir so perplex, dass wir uns nur gegenseitig anstarren. Dann wenden wir langsam die Köpfe.
In der Ebene sieht man nichts. Nur ein dunkles graues Band am Horizont.
Dann hört man einen weiteren Fanfarenstoß, ein verlorener, wandernder Klang.
»Was ist los?«, fragt Epap. »Was war das für ein Ton?«
»Die Jagd«, sage ich. »Sie hat begonnen. Sie kommen.«
»Das ist nur der Wind, der über die Felsen pfeift«, sagt Epap und zeigt auf fünf große Felsblöcke, die unordentlich aufeinandergetürmt sind.
Niemand antwortet.
»Da«, sagt Ben auf dem Kutschbock und weist mit dem Finger zum Institut, wie eine Wetterfahne. Seine Stimme klingt neutral, beinahe beiläufig.
»Ich sehe nichts, Ben«, sagt Sissy.
»Da drüben!«, ruft er, aufgeregter und ängstlicher.
Und dann sehen wir es alle. In der Ferne steigt eine Staubwolke auf.
Ich habe das Gefühl, dass meine inneren Organe durch eine Falltür plumpsen, die sich soeben geöffnet hat.
Die Jäger kommen. So schnell.
Ich versuche, nicht an Ashley June zu denken, die immer noch in ihrer dunklen kalten Zelle hockt und hofft …
Irgendjemand packt mich am Kragen. »Du hast uns einiges zu erklären, mein Freund.« Epap. »Was geht hier vor?«
»Lass mich los!«, brülle ich, hole aus und schlage ihm ins Gesicht. Sein Kopf schnellt nach hinten und wieder nach vorn, in seinen Augen flackert Wut auf. Ehe ich reagieren kann, schlägt er mit steinerner Faust und überraschender Kraft zurück – ein Hieb in den Magen, der mir den Atem raubt. Ich halte meinen Bauch und sinke gekrümmt auf die Knie. Aber er ist noch nicht fertig mit mir. Er verpasst mir einen Tritt in die Rippen. Für einen Moment wird vor meinen Augen alles weiß.
»Du bist bloß ein Weichei! Ein ausgelaugter, schlaffer Schwindler! Du könntest nicht mal ein Gänseblümchen umpusten, wenn dein Leben davon abhinge.«
Bring die Hepra zurück.
»Sag uns, was los ist!«, brüllt er.
Ich spucke Blut auf den Boden und schließe wieder die Augen. Noch immer ist alles verwaschen und weiß. Ein Jaulen ertönt.
»Sie kommen«, sage ich.
»Wer kommt?!«
»Die Jäger!«
Es entsteht ein langes Schweigen. Ich bringe es nicht über mich, den Kopf zu heben und ihnen in die Augen zu blicken.
Dann hören wir es wieder. Diesmal
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