Die Jaeger der Nacht
Richtung.
Ashley June sitzt auf der anderen Seite neben mir und ich registriere jede ihrer Bewegungen: wie nahe ihr Ellbogen meinem kommt, wenn sie ihr Besteck nimmt oder ablegt. Der Schwung ihres Haars, als sie es zu einem Pferdeschwanz bindet, damit es nicht in die Tropfschalen fällt. Vor allem jedoch bemerke ich ihr Schweigen. Ich spüre ein starkes Verlangen, sie anzusehen, und will gleichzeitig von ihr abrücken, um meinen Geruch zu verbergen.
Nach der Hälfte des Essens bin ich mehr als besorgt über meinen Körpergeruch. Und je nervöser ich werde, desto schlimmer wird es. Ein rascher leiser Abgang ist fällig. Ich stehe auf und sofort wenden sich alle Augen mir zu. Ich trete vom Tisch zurück und sehe mich in der Dunkelheit suchend nach meinem Begleiter um. Sofort taucht er hinter mir auf.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles bestens. Aber ich sollte besser zurück zu meiner Unterkunft gehen. Ich mache mir Sorgen wegen des Sonnenaufgangs.«
Er sieht auf seine Uhr. »Der ist erst in einer Stunde.«
»Trotzdem, ich bin lieber vorsichtig. Ich will kein Risiko eingehen, draußen von einem verfrühten Sonnenaufgang überrascht zu werden.« Mittlerweile haben wir die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der anderen.
»Unsere Dämmerungsberechnungen sind immer korrekt«, versichert er mir.
Ich schlage den Blick nieder und merke, dass ich meine Müdigkeit gar nicht vortäuschen muss. Ich bin tatsächlich erschöpft bis auf die Knochen. »Wenn heute Abend sonst nichts mehr ansteht, ziehe ich mich früh zurück, denke ich. Ich bin ziemlich platt.«
Ich spüre, wie er mich verständnislos anstarrt. »Aber das Essen – es kommen noch so viele Fleischgerichte …«
Jetzt kapiere ich. »Also, Sie müssen mich nicht begleiten. Bleiben und essen Sie. So viel, wie reinpasst. Wirklich. Ich kenne den Weg zurück. Zwei Treppen nach unten, dann links den Flur hinunter, rechts, noch einmal links und nach draußen durch die Doppeltür mit dem Wappen des Instituts.«
»Und du möchtest nicht bis zum Nachtisch bleiben?«
»Nein, danke, wirklich nicht.«
»Aber die edelsten und blutigsten Fleischsorten kommen noch!«
»Ich bin einfach fertig.« Und bevor er erneut widersprechen kann, gehe ich. Auf dem Weg hinaus werfe ich einen kurzen Blick zum Tisch.
Sie sollten alle essen, sich das Maul vollstopfen und meine Unterhaltung mit dem Begleiter gar nicht mitbekommen. Aber stattdessen sehen sie mich verwirrt an. Nein, es ist mehr als Verwirrung. Es ist jene Art von Fassungslosigkeit , die sich in den Köpfen der Leute festsetzt und sie ins Grübeln bringt.
»Dumm, dumm, dumm«, murmele ich auf der Treppe. Idiot, Idiot, Idiot, schimpfe ich auf dem Weg durch die Flure stumm mit mir. »Schwachkopf, Schwachkopf, Schwachkopf«, sage ich laut, als ich die Doppeltür ins Freie aufstoße. Und dann höre ich in meinem Kopf die Stimme meines Vaters: Tue nichts Außergewöhnliches, nichts, womit du aus der Masse herausstichst. Vermeide alles, was Aufmerksamkeit erregt. Auch als ich ein paar Minuten später vor meiner Tür stehe, verfluche ich mich immer noch: idiotisch, bescheuert, schwachsinnig, blöd.
In der Bibliothek wandere ich durch die Gänge, durchstöbere Hinterzimmer und verborgene Nischen, doch es ist vollkommen sinnlos. Nirgendwo findet sich eine trinkbare Flüssigkeit, nicht ein Tropfen. Und im Bad gibt es wie in allen Badezimmern nur einen Papierhandtuchspender. Ich mache mir jetzt ernsthafte Sorgen. Abgeschnitten von meinen Vorräten zu Hause, meinen Werkzeugen der Täuschung – meinen Rasierern, Wasserflaschen, Geruchsunterdrückern, Zahnweißern und Nagelfeilen – geht alles rapide den Bach runter. Der Wassermangel löst Schwindelanfälle aus, ich kann mich nicht mehr konzentrieren, alle meine Gedanken sind abgerissen. Kurze Aussetzer. Ein pochender Kopfschmerz.
Ich hebe den Arm und schnuppere an meiner Achselhöhle. Da. Sogar ich kann es jetzt riechen. Und wenn ich es riechen kann, können sie es auf jeden Fall. Kein Wunder, dass Hagermann und Fettwanst beim Dinner so abgelenkt waren.
Ich weiß nicht, ob mich schon jemand verdächtigt. Vielleicht haben Hagermann und Fettwanst etwas gewittert, aber ich glaube nicht, dass sie den Geruch schon mit mir in Verbindung gebracht haben. Doch morgen werde ich stinken.
Ich lasse mich auf das Ledersofa fallen. Es pocht in meinem Kopf, alles dreht sich. Draußen drängt ein erster Hauch von Dämmerung gegen die Fenster. Bald werden sich die Fensterläden schließen.
Ich
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