Die Jaeger der Nacht
Hepra-Mädchen vor, dicht gefolgt von der Gruppe. Eine Armlänge von mir entfernt bleibt es stehen, so nah, dass ich die blassen Sommersprossen auf seiner Nase erkennen kann. Es berührt mein Gesicht, meine Wangen; seine Fingerspitzen sind voller Schwielen.
Mit einem Nicken lädt es die anderen ein, näher zu treten. Langsam bilden sie einen Kreis um mich. Ich bewege mich nicht. Sie strecken die Hände aus, berühren mein Gesicht, meine Wangen, meinen Hals, piksen und bohren. Ich lasse sie.
Dann treten sie zurück. Das Hepra-Mädchen steht immer noch vor mir, hat die Axt jedoch weggelegt. Und zum ersten Mal sehe ich in seiner Miene etwas, das weder Angst noch Neugier ist. Ich weiß nicht, was es ist. Aber die kleinen Flammen in seinen Augen leuchten warm wie Funken in einem Kamin.
»Mein Name ist Sissy. Wie heißt du?«
Ich starre sie verständnislos an. »Was ist ein ›Name‹?«, frage ich.
»Du weißt deinen Namen nicht?«, fragt ein Hepra von hinten. Es ist der Jüngste der Gruppe, ein kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt. »Mein Name ist Ben. Wie kann man keinen Namen haben?«
»Er hat doch nicht gesagt, dass er seinen Namen nicht weiß. Er hat gesagt, er weiß überhaupt nicht, was ein Name ist.«
Das Hepra, das diese Worte sagt, steht als Einziges ein wenig abseits. Sein Mund hängt auf einer Seite schräg nach unten, als hätte er sich unabsichtlich an einem Angelhaken verfangen. Es ist gleichermaßen schlank wie groß und überragt die anderen, als wären seine Gliedmaßen mit dem Alter nur in die Länge gezogen worden, ohne ein Gramm Muskeln oder Fett hinzuzugewinnen.
Der kleinere Hepra-Junge wendet sich mir zu: »Wie nennen die Leute dich?«
»Wie man mich nennt? Kommt drauf an.«
»Kommt drauf an?«
»Darauf, wo ich bin. Von meinen Lehrern werde ich so genannt, von meinem Trainer wieder anders. Es kommt drauf an.«
Das Hepra-Mädchen packt den nächstbesten Hepra am Arm und zieht ihn nach vorn. »Das ist Jacob.« Sie geht zum nächsten. »Neben ihm ist David, der dich heute Morgen als Erster gesehen hat. Da drüben, ein wenig abseits, steht Epaphroditus. Wir nennen ihn ›Epap‹.«
Ich lasse die Laute in meinem Kopf widerhallen: David, Jacob, Epap. Merkwürdige, fremde Klänge. David und Jacob sehen jung aus, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Epap ist älter, vielleicht siebzehn.
»Du meinst Kennung. Was ist meine Kennung?«
»Nein«, sagt das Hepra-Mädchen kopfschüttelnd. »Wie nennt dich deine Familie?«
Ich will ihr gerade erklären, dass ich keine Familie habe und mich nie jemand bei irgendeinem »Namen« gerufen hat … als ich stutze. Eine Erinnerung steigt unvermittelt in mein Bewusstsein auf, schwach und brüchig. Die Stimme meiner Mutter, sie singt, es sind Bruchstücke, dunkle Fragmente, zunächst nur eine Melodie mit unverständlichem Text. Aber dann drängt etwas an die Oberfläche, ihre Worte nehmen Gestalt an, einzeln und nach wie vor unscharf, aber …
Gene.
»Mein Name ist Gene«, sage ich und das ist gleichermaßen eine Offenbarung für mich wie eine Vorstellung für sie.
Sie führen mich durch das Dorf. Sie haben das Beste aus ihrem Los gemacht. Hinter den Hütten gibt es einen Gemüsegarten mit einigen Obstbäumen. Eine Wäscheleine hängt neben einem Trainingsgelände, auf dem Speere, Messer und Dolche auf dem sandigen Boden liegen. In den Hütten überrascht es mich vor allem, wie viel Sonnenlicht hereinfällt. Die Dächer haben große Löcher wie ein Sieb. Das Fehlen jeglicher Barriere zwischen ihnen und dem Himmel ist wirklich seltsam. Eine kühle Brise weht durch die Hütten.
»Durchzug haben wir nur tagsüber«, sagt das Hepra-Mädchen, als es meine Freude bemerkt. »Wenn die Kuppel geschlossen ist, steht die Luft vollkommen still.«
Die Lehmhütten sind nur karg eingerichtet, an den Wänden hängen Zeichnungen und Gemälde sowie ein paar Regale mit einer Sammlung abgegriffener Bücher. Am erstaunlichsten ist jedoch, was in der Mitte der Hütten thront, mit beinahe unverfrorener Verwegenheit: ein »Bett«. Nicht nur ein paar auf den Boden geworfene Decken, sondern eine massive Holzkonstruktion mit Beinen und einem Unterbau. Und kein einziger Schlafhalter in Sicht.
Draußen steht in einiger Entfernung ein Metallkasten von der Größe eines kleinen Wagens. An einem Pfosten daneben blinkt ein grünes Licht. »Was ist das?«, frage ich.
»Der Umbilicus«, sagt David.
»Was?«
»Komm, gehen wir rüber. Es sieht eh so aus, als wäre etwas
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