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Die Jaeger der Nacht

Die Jaeger der Nacht

Titel: Die Jaeger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Fukuda
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kannst du verschwinden und dich nie wieder hier blicken lassen. Außerdem, wenn du denkst, wir sind alle nur ein Es, dann bist du genau so ein Es wie wir.«
    »Du hast Recht«, sage ich. Meine Wange brennt immer noch. »Entschuldigung.«
    Insgeheim mache ich trotzdem einen gewaltigen Unterschied zwischen ihnen und mir. Sie sind Wilde, ungezähmt, ungebildet. Ich bin all das nicht. Ich bin ein Überlebender aus eigener Kraft, zivilisiert, gebildet. Obwohl wir vielleicht gleich aussehen, sind sie kein bisschen so wie ich. Doch solange ich sie zum Überleben brauche, spiele ich mit, wenn es sein muss. »Ich hab echt nicht nachgedacht, nichts für ungut. Hört mal, es tut mir leid, Sissy. Epap. Tut mir leid.«
    Das Hepra-Mädchen starrt mich ungerührt an. »Ich glaub dir kein Wort.« Aggression baut sich auf, als auch die anderen um Sissy und Epap mich argwöhnisch mustern.
    Es ist der kleine Ben, der die Spannung löst. »Komm mit, ich zeig dir mein Lieblingsobst!« Er zerrt mich an einem Arm zu einem Baum in der Nähe.
    »Nicht, Ben …«, ruft Epap ihm nach, aber wir sind schon weg.
    »Komm«, sagt er und springt hoch, um eine tief hängende rote Frucht zu pflücken. »Die Äpfel von diesem Baum sind die besten. Der Südbaum hat auch Äpfel, aber die sind nicht halb so gut wie die hier. Ich liebe sie.«
    Es ist sonderbar, das Wort Liebe so freimütig verwendet zu hören. Noch dazu für Obst.
    Ehe ich mich versehe, liegt eine reife Frucht in meiner Hand. Ben nagt schon an dem Apfel, den er für sich gepflückt hat. Ich beiße in die Frucht und spüre, wie die Säfte in meinen Mund spritzen. Hinter mir höre ich Schritte. Die Gruppe hat zu uns aufgeschlossen. Vielleicht ist es der Anblick der kindlichen Freude, mit der ich den Apfel genieße, jedenfalls wirken sie nicht mehr so feindselig wie zuvor. Mit Ausnahme von Epap natürlich. Er starrt mich weiterhin finster an.
    »Sind diese Früchte nicht die allerbesten? Warte, bis du die Bananen probiert hast …«
    Sissy legt sacht eine Hand auf Bens Schulter, woraufhin er sofort verstummt und sich zu ihr umdreht. Sie nickt freundlich und wendet sich dann an mich. Es ist der gleiche Blick, mit dem sie gerade Ben angesehen hat: beruhigend, aber auch seltsam befehlend und von sanfter Beharrlichkeit. »Wir würden tatsächlich gern wissen, warum du hier bist. Erzähl es uns.«
    Nach einer langen Pause antworte ich. »Ich erzähle es euch.« Meine Stimme bricht aus irgendeinem Grund. »Ich erzähl es euch, aber können wir nach drinnen gehen?«
    »Rede einfach hier«, sagt Epap. »Hier, wo wir sind, ist es schön, und …«
    »Drinnen ist okay«, sagt Sissy, und als sie sieht, dass Epap erneut dazwischengehen will, fügt sie rasch hinzu: »Die Sonne muss unbehaglich für dich sein. Du bist nicht daran gewöhnt.« Und damit geht sie zu der nächsten Hütte, ohne sich umzublicken, ob die anderen ihr folgen.
    Das tun sie, einer nach dem anderen. Der Letzte bin ich. Ich folge ihnen durch die Öffnung in die Lehmhütte.
    Ich erzähle ihnen beinahe die Wahrheit. Das ist nicht so gut wie die volle Wahrheit, ich weiß, doch ich rede mir ein, dass ich nicht so sehr lüge, als es vielmehr versäume, bestimmte Details zu erwähnen. Aber wie meine Lehrerin in der zweiten Klasse immer sagte: Eine Fast-Wahrheit ist das Gleiche wie eine unverhohlene Lüge. Trotzdem gelingt es mir, das Lügen. Es ist leicht, wenn im Grunde das ganze Leben, das man lebt, eine Lüge ist; leicht, andere zu täuschen, wenn die eigene Identität komplett auf einer Täuschung fußt.
    Es gibt viele von uns da draußen, lüge ich. In jedem Bereich der Gemeinschaft, auf jeder Ebene der Gesellschaft, massenhaft Hepra. Unsere Existenz ist so weit verbreitet und vielfältig wie Schneeflocken in einem nächtlichen Sturm. Und trotzdem bleibt sie – wie die der Schneeflocken in der Nacht – unbemerkt. Wir sind verbunden durch das geteilte Schicksal der Heimlichkeit, durch unsere Täuschung der allgemeinen Bevölkerung. Wir rasieren uns sorgfältig, pflegen unsere falschen Reißzähne und unser ausdrucksloses Gebaren. Wir sind keine Gesellschaft im Untergrund, sondern bilden kleine Netze von drei bis fünf Kernfamilien. Es ist eine gefährliche Existenz, aber nicht ohne Freuden und Vergnügen.
    Zum Beispiel?
    Zum Beispiel das Vergnügen des Familienlebens, fahre ich mit meinen Lügen fort, die Freiheit innerhalb unserer abgeschiedenen Häuser, wenn die Läden sich bei Sonnenaufgang geschlossen haben. Speisen, die wir

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