Die Jäger des Lichts (German Edition)
Gefühle …«, ihre Miene wird plötzlich hart, »… dazwischenkommen.« Sie sieht mich aus den Augenwinkeln an, und ihre Stimme zittert zum ersten Mal, klingt gequält und zerrissen. »Und tief im Innern ist es auch das, was Gene will.«
Die Jungen sehen mich an. Und auch Ben entdeckt jetzt in meinem Gesicht einen neuen Ausdruck, der seine Unterlippe beben und Tränen in seine Augen schießen lässt. »Gene?«, fragt er, und die Frage hängt baumelnd im Wind.
Sissy tritt mit starrer Miene auf mich zu. »Er will zu seinem Vater. Nichts – und niemand – ist ihm wichtiger. Und das dürfen wir ihm nicht verwehren. Wir müssen ihn gehen lassen.«
Die Jungen hinter ihr sehen mich an. Der Himmel im Hintergrund ist tiefblau, keine Wolke in Sicht. Ben fängt an zu schluchzen, und Epap legt tröstend den Arm um seine Schultern.
»Ich werde euch nicht verlassen«, sage ich.
»Du musst«, sagt Sissy. »Ich lasse nicht zu, dass du bleibst.«
»Ich bin es leid zu desertieren …«
Sie legt einen Finger auf meine Lippen.
Der Widerschein der Sonne auf der Granitkuppel lässt ihre Augen leuchten, und ich erinnere mich daran, wie ich diese braunen Augen an meinem Bildschirm in der Schule zum ersten Mal gesehen habe, als sie die Zahlen der Lotterie für die Hepra-Jagd gezogen hat. Das ist nun so viele Tage her, doch ich weiß noch genau, wie diese Augen selbst in den digitalen Pixeln auf meinem Monitor zugleich Stärke und Weichheit ausgestrahlt haben.
Und so fühlt sich jetzt auch ihre Hand auf meiner Wange an. Stark und weich.
»Gene«, flüstert sie, und ihre Stimme verrät sie schließlich doch. Sie schluckt hart. »Geh.« Einen Moment lang zersplittert ihr entschlossener Blick in tausend Scherben. Sie wartet, als wolle sie mir Gelegenheit geben zu widersprechen. Doch ich sage nichts. Sie schließt die Augen und wendet sich wieder zu den Jungen.
Einen Moment stehe ich wie angewurzelt da. Dann mache ich in einer unendlich langsamen Bewegung einen Schritt auf die Leiter zu. Alles erscheint mir substanzlos, der Granitboden unter meinen Füßen, meine Beine, mein Körper. Es fühlt sich an, als könnte ich mit dem nächsten Windstoß fortgeweht werden oder besser noch Knochen für Knochen im Handumdrehen zu nichts verwittern. Ich setze meinen Stiefel auf die erste Sprosse.
»Gene!«, ruft David. »Wir sehen uns wieder. Eines Tages, okay?«
Ich nicke. Er lächelt, und ich spüre, wie auch ich die Lippen instinktiv zu einem Lächeln verziehe. Ich wusste nicht, dass man auch aus Traurigkeit lächeln kann. Und dann tue ich etwas, wovor mein Vater mich immer gewarnt hat. Ich hebe die Hand und winke langsam. Die Augen feucht, winken sie alle zurück.
Als würde mich das Gewicht meines Herzens in die Tiefe ziehen, steige ich Sprosse für Sprosse hinab. Der Anblick von Sissy und den Jungen wird ersetzt von der Granitwand, die sich grau und massiv vor mir erhebt. Meine Füße finden die nächste Sprosse und die nächste und die nächste, und dann bin ich wieder ganz allein auf der Welt.
39
Ich schlage ein strammes Tempo an. Es ist besser so, mein Herz pumpt kräftig, meine Lungen saugen Luft ein, und meine Gedanken sind darauf gerichtet, was vor mir liegt, nicht auf das, was ich zurückgelassen habe. Ich bin ein winziger Punkt, der über ein riesiges vergessenes Land gleitet, das für immer erstarrt und ohne jede Erinnerung ist.
Als die Sonne untergeht, stoßen meine Stiefel nicht mehr auf harten Granit, sondern auf weichen Waldboden. Im Wald ist es kälter und dunkler, als hätte die Dämmerung sich verfrüht eingeschlichen. Ich marschiere mit schnellen Schritten weiter, um möglichst viele Meilen hinter mich zu bringen.
Doch inmitten der dichten Bäume verliere ich zunehmend die Orientierung und laufe im Kreis. Ich blicke nach oben, doch die hohen Kronen stehen so eng beieinander, dass ich den Stand der Sonne nicht ausmachen kann und nicht einmal weiß, wo Osten ist. Der Himmel ist auch nicht mehr blau, sondern hat, wie ich besorgt feststelle, die blutrote Tönung der Dämmerung angenommen.
Die Nacht bricht an.
Ich bin ein Junge aus der Stadt und nicht daran gewöhnt, mich in der wilden Natur zurechtzufinden. Mit wachsender Panik stürme ich vorwärts, muss mir jedoch zehn Minuten später eingestehen, was ich seit mehr als einer Stunde zu leugnen versuche. Ich habe mich verirrt, mein innerer Kompass ist kaputt. Ich weiß nicht mehr, ob ich auf die Mission zulaufe oder von ihr weg. Ich habe kostbare Zeit
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