Die Jäger des Lichts (German Edition)
verloren.
Alarmiert sehe ich, dass bereits die ersten Sterne am dämmrigen Himmel funkeln. Die Nacht gießt sich über die Welt. In den Höhlen unter meinen Füßen warten in diesem Moment Hunderte von Schattern darauf, dass die Dunkelheit die letzten Reste des Tages vertreibt. Der Gedanke zermürbt mich. Bald werden sie sich von den Wänden der Höhle lösen, sich an Ranken und anderen Pflanzen nach oben hangeln und durch die Öffnung klettern, durch die bei Tag die Sonnenstrahlen fallen. In Scharen werden sie herausströmen und auf ihrem Wettlauf zur Mission den Berg überziehen wie ein schwarzer Ölfilm.
Ich hoffe, Sissy und die Jungen sind gut vorangekommen und sicher zurück in der Mission. Ich hoffe, sie können die Mädchen überzeugen, in den Zug zu steigen, und aufbrechen, bevor die Schatter ankommen. Ich gehe weiter, doch ein wachsendes Gefühl von Schuld lastet auf meinen Schultern. Ich habe sie verlassen. Ich habe sie verraten, genau wie ich Ashley June im Stich gelassen habe. Ich gehe nochschneller, damit die Erschöpfung mich von solchen Gedanken befreit.
Eine halbe Stunde später lehne ich schwer atmend an einem Baumstamm und spähe mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Ich sollte längst auf der anderen Seite des Berges sein, Meilen entfernt, den Wind im Rücken und sicher, ihren Weg nicht zu kreuzen. Stattdessen irre ich verängstigt durch den dunklen stillen Wald. Als Clair uns vor Tagen diesen Weg entlanggeführt hat, wimmelte es von Wildtieren, doch noch herrscht eine unheimliche Stille. Als hätten die Waldbewohner die Ankunft der Schatter gespürt und wären bereits geflohen.
Als mein japsender Atem wieder gleichmäßiger geht, höre ich das leise Plätschern eines Baches. Ich schlurfe darauf zu, nicht weil ich Durst hätte und Wasser bräuchte, sondern weil ich mich daran erinnere, dass gut fünfzig Meter von der Holzhütte entfernt auch ein Bach geflossen ist. Vielleicht ist es derselbe.
Es ist ein gurgelnder, schnell fließender Bergbach. Ich hocke mich ans Ufer und spritze mir Wasser ins Gesicht. Die eisige Feuchtigkeit reißt mich aus meiner Erschöpfung, und ich fühle mich wieder klar und wach.
In meinem Kopf reift eine Idee. Ein Ausweg. Es ist nicht perfekt, eigentlich sogar alles andere als das. Aber während die Temperatur rapide sinkt und mir die Kälte in den Nacken kriecht, begreife ich, dass es nicht nur eine praktikable, sondern auch die einzige Fluchtmöglichkeit ist. Ichschnalle mir wieder die Tasche auf den Rücken, ziehe die Riemen fester, laufe am Bach entlang und halte Ausschau nach der Hütte.
Denn dort hängt der Hängegleiter meines Vaters.
Beinahe wäre ich daran vorbeigerannt. Ein einzelner klagender Schrei, beunruhigend nah in der Dunkelheit, rettet mich. Ich bleibe abrupt stehen, und da sehe ich sie. Nicht die Hütte, sondern eine Lichtung. Kurz darauf habe ich sie überquert und laufe auf die Veranda der Holzhütte zu.
Als ich den Türknauf drehe, erhebt sich ein Chor von weiteren Schreien, männlich und raubtierartig, ein Gleichklang gemeinsamen Verlangens. Ich starre auf den Wald. Keine Bewegung. Die Lichtung fällt auf einer Seite zu einer steilen Klippe hin ab. Dort ist mein Vater mit seinem Hängegleiter gestartet. Direkt von dieser Klippe in den Himmel über Das Weite. Und dort muss auch ich starten.
In der Hütte ist es dunkel. Ich hole ein GlühBrenn aus meiner Tasche und knacke es auf. Der Gleiter hängt an der Schlafzimmerwand. Mit dem Wissen, dass ich mit dem Gerät fliegen muss, kommt es mir sowohl zerbrechlicher als auch schwerfälliger vor, als ich es in Erinnerung habe. Ich versuche hinter dem wirren Durcheinander von Riemen und Streben ein System zu erkennen. Das Ganze ergibt überhaupt keinen Sinn. Irgendwas fehlt. Dann fällt es mir wieder ein. Ich öffne die Kleidertruhe und ziehe die seltsam aussehende Weste heraus, die Ben beim ersten Mal dort entdeckt hat. Ich ziehe den Reißverschluss auf und versuche, die baumelnden Metallhaken, Seile und Karabiner zu entwirren. Ich streife die Weste über und stecke die Beine durch das Gurtwerk. Jetzt ergibt das Ganze schon mehr Sinn: Haken lassen sich in entsprechenden Ösen befestigen, Karabiner passen zu gleichfarbigen Gegenstücken.
Ein Schrei lässt die Scheibe klirren.
Das Fenster ist zu einer undurchsichtigen schwarzen Platte geworden.
Noch mehr Schreie hallen über den Berghang, viel lauter als zuvor. Sie kratzen an den Fenstern der Hütte wie Fingernägel über ein Eisbrett. Ich
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