Die Jäger des Lichts (German Edition)
über seine Hänge, und ich sehe eine silberne Decke und schwarze Punkte, die an die Oberfläche treiben. Wellen von Schattern ergießen sich aus dem Innern des Berges. Bald werden sie die Mission erreicht haben.
Ich habe versucht, nicht an sie zu denken, doch meine Gedanken kehren unwillkürlich zu Sissy und den Jungen zurück. Sie müssten mittlerweile zurück in der Mission sein. Einen Moment lang hallt eine Leere in mir wider, weiter als der Nachthimmel.
Ich starre stur nach Osten. Irgendwo dort draußen jenseits meines Blickfelds ist mein Vater.
Ich frage mich, wie viele Mädchen Sissy überzeugen konnte, mit dem Zug zu fliehen.
Mein Vater wird braun gebrannt sein, denke ich, weil er die Sonne jetzt nicht mehr meiden muss. Vielleicht ein wenig fülliger um die Hüften wegen all des guten Essens.
Ich frage mich, ob Sissy und die Jungen schon im Zug sitzen, dicht gedrängt mit den Mädchen aus dem Dorf, während die Motoren der Lokomotive warm laufen.
Mein Vater wird einen Vollbart haben oder einen Schnauzer, vielleicht auch nur Dreitagestoppel. Er wird Haare an Armen und Beinen haben. Die Ringe unter seinen Augen werden schmaler oder ganz verschwunden sein, weggewischt von Monaten und Jahren friedlichen Schlafs. Er wird anders aussehen, mein Vater, doch befreit von den Masken, die er sein Leben lang tragen musste, wird er sein wahres, unverschleiertes Selbst zeigen.
Ich frage mich, ob es Sissy und den Jungen gut geht. Ich frage mich, ob sie wissen, dass sie unverzüglich aufbrechen müssen. Ich frage mich, ob sie ahnen, wie viele Schatter in ihre Richtung stürmen.
Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich meinen Vater wirklich lächeln sehen. Ich werde jenes reinste aller Gefühle sehen, das er zu unterdrücken gelernt hat. Ich werde sehen, wie er mittlerweile ganz natürlich die Mundwinkel hochzieht und seine strahlenden Zähne präsentiert,bis das Leuchten seine Augen erreicht. Er wird die Arme hängen lassen, weil er nicht mehr vortäuschen muss, sich das Handgelenk zu kratzen. All das wird er tun, wenn er mich sieht. Er wird lächeln. Er wird in der Sonne stehen, lächeln und nicht mehr gezwungen sein, sich im Schatten herumzudrücken.
Ich frage mich, ob Ben nach einem ganzen Tag Wandern nicht zu müde ist. Ob David weiß, dass er Schal und Handschuhe brauchen wird, weil der Wind, der durch die offenen Gitterstäbe der Waggons pfeift, kalt und beißend wird. Ich frage mich, ob Sissys Arm gut verheilt oder ob das Brandmal sich entzündet hat. Ich frage mich, ob sie an mich denken wird wie ich an sie. Ich frage mich, ob Sissy das Gefühl hat, mich zu brauchen, so wie ich sie.
Die Sterne am Himmel scheinen nur eine Armlänge entfernt zu sein. Als ob ich die Hand ausstrecken, sie pflücken und zusehen könnte, wie sie Schneeflocken gleich zur Erde rieseln.
Ich starre nach Osten. Ich sehe meinen Vater im warmen Licht der Sonne, leuchtend und verschwommen wie eine Fantasie, die blasser wird und verschwindet, wie es alle Träume im grellen Licht des Morgens unvermeidlich tun.
Ich packe die Metallstange fester, schwenke meine Beine seitlich und neige den Oberkörper. Die Sterne über mir wirbeln herum, als ich den Hängegleiter wende, der Mond schaukelt wie ein Ball an einer Schnur, das silberne Band des Flusses unter mir dreht sich. Und dann ist der Berg wieder vor mir, die Umrisse seines Gipfels leicht zur Seite gekippt wie ein schräg gelegter Kopf, überrascht und verwirrt.
Ich fliege nach Westen.
Zurück zur Mission.
40
Die Mission liegt in einem Tal zwischen zwei Bergkämmen, das ich beim ersten Anflug verpasse. Die Brücke – genauer gesagt ihre beiden aufgeklappten Hälften – erweist sich als unschätzbarer Orientierungspunkt. Ich umkreise ihn und sehe zwischen den beiden Bergkuppen ein paar Lichtpunkte flimmern. Ich fliege näher heran, bis die Mission ganz aus dem Dunkel taucht und die weichen Konturen der beleuchteten Hütten sichtbar werden. Ich bin überrascht, wie klein und idyllisch das Dorf aus dieser Höhe wirkt.
Resigniert und ziemlich beklommen bin ich bereits zu dem Schluss gekommen, dass die Landung übel, wahrscheinlich schmerzhaft und potenziell tödlich werden wird, je nach dem, wie viel Anfängerglück ich habe. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken – die gute Viertelstunde, die der Rückflug gedauert hat –, und bereits entschieden, dass ich am besten auf dem Gletschersee am anderen Ende der Mission lande. Doch was in der Theorie eine gute Idee war,erweist
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