Die Jäger des Lichts (German Edition)
Licht.«
Niemand sagt etwas. Nicht in dem Moment und auch die nächsten paar Stunden nicht. Aber ich weiß, was sie denken: Was, wenn Sissy sich irrt? Was, wenn der Morgen kein Licht bringt? Was, wenn der Morgen in dieser Höhle der Dunkelheit keine Erlösung von der gnadenlosen Schwärze bringt?
»Boah«, sagt David, der als Erster aufwacht. Wie sich herausstellt, liegen wir nicht auf einem einzelnen Felsen, sondern auf dem Fundament, das den herabstürzenden Wasserfall einfasst. Um uns schießen zahllose Sonnenstrahlendurch verborgene Öffnungen in der Decke. Drei von ihnen sehen aus wie Säulen, die das Gewölbe des riesigen Raumes stützen. Und riesig ist noch vorsichtig ausgedrückt: Die Grotte ist gigantisch. Weitere Sonnenstrahlen fallen herein, leuchten Hunderte von Metern in alle Richtungen und offenbaren die höhlenartige Anlage.
Der Wasserfall ist nicht annähernd so hoch, wie er sich gestern Nacht während des Sturzes angefühlt hat. Seine wirbelnde Gischt nährt die dicke Moosschicht an der Unterseite der überhängenden Felsen. Das Boot ist nirgends zu sehen, doch einige unserer Taschen treiben am Ufer des Beckens auf dem Wasser.
»Guckt mal!«, sagt Ben und zeigt nach oben.
Stalaktiten stoßen hoch über unseren Köpfen von der Decke herab wie Fangzähne, die in der Sonne orangerot schimmern. Dazwischen baumeln Ranken wie Essensfäden. Riesige Kalkspattürme erheben sich in schrägen Winkeln vom Boden, ihre Sockel sind von Farnen und Palmen umschlungen. Dünnere Stalagmiten ragen bis zu fünfzig Meter hoch, doch es ist die schiere, ungeheure Ausdehnung der Höhle, die uns am meisten verblüfft.
»Hier drinnen könnte man eine Stadt bauen!«, rufe ich, um mir über dem Tosen des Wasserfalls Gehör zu verschaffen. »Zwanzig, dreißig Stockwerke hohe Wolkenkratzer. Ganze Häuserblocks, eine Meile lang.« Niemand antwortet, niemand hört mich. Ich gehe von dem Wasserfall weg, wo es stiller ist.
Die anderen folgen mir, und wir versammeln uns in einem breiten Sonnenstrahl. Die Wärme ist herrlich. Das Sonnenlicht bleicht unsere Haut und lässt sie leuchten wie Phosphor.
»Und was jetzt?«, fragt Epap. Alle sehen Sissy an.
»Wir erkunden das Gelände«, sagt sie.
»Ist es das?«, fragt Ben. »Ist das das Land von Milch, Honig, Obst und Sonnenschein?«
»Hoffentlich nicht«, erwidert Epap kopfschüttelnd. »Das hier ist das Letzte. Da würde ich die Kuppel jederzeit vorziehen. Ich hab noch keine Milch, keinen Honig und kein Obst gesehen. Ein bisschen Sonne gibt es immerhin, aber da hatten wir in der Kuppel auch mehr.«
»Wir machen Folgendes«, sagt Sissy. »Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Wir suchen nach einem Hinweis, einem Zeichen. Der Forscher muss irgendwas hinterlassen haben.« Sie sieht sich um und marschiert dann mit Ben und Jacob im Schlepptau tiefer in die Höhle hinein.
»Okay, ihr zwei«, sagt Epap zu David und mir. »Lasst uns hier langgehen. Und Augen auf, Jungs.« Wir machen uns in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg, am Ufer des Flusses entlang.
Stunden später haben unsere Anstrengungen noch immer kein Ergebnis gebracht. In dem Gelände kommt man nur mühsam voran, überall liegen lose Felsbrocken, an denen man sich prima den Knöchel verstauchen kann. David, Epapund ich gehen langsam, weil wir nichts übersehen wollen, doch die meiste Zeit starren wir auf das schmale Stück Boden vor uns und bemühen uns, Steinen und rutschigem Moos auszuweichen. Und obwohl wir hoffen, in Richtung des Höhlenausgangs zu laufen, sieht man auch nach zwei Stunden buchstäblich kein Licht am Ende des Tunnels. Wenn er überhaupt ein Ende hat. Der Fluss fällt in drei Stufen mit großen Becken ab, und unser Abstieg wird steil und tückisch. Mehrere Male müssen wir größere Umwege machen, um einen Felsen zu umgehen. Häufig rutschen wir auf dem glatten, moosigen Untergrund aus und greifen mit rudernden Armen nach den Tropfsteintürmen oder muschelbesetzten Felsen. Schließlich wird unser Weg vollständig von einer massiven Wand aus geriffeltem Kalkstein versperrt. Sie ist mit Algen überzogen und zehn Stockwerke hoch. Der Fluss schlängelt sich durch eine schmale Öffnung zu einem weiteren mehrstufigen Wasserfall. Wir machen kehrt, niedergeschlagen, erschöpft, hungrig und mutlos.
Als wir zurückkommen, sitzen die anderen drei in der Nähe des Wasserfalls in einer Säule aus Sonnenlicht. Nach ihren hängenden Schultern und mürrischen Gesichtern zu urteilen, ist es ihnen nicht besser
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