Die Jäger des Lichts (German Edition)
Schlafmittel in der Suppe und der Suche nach Sissy –, habe ich ebenfalls kaum etwas davon verarbeitet. Als ich meinen Verdacht geäußert habe, dass die Zivilisation vielleicht nicht das Gelobte Land, sondern der Herrscherpalast sein könnte, bebte meine Stimme, und ich musste meine Finger tief in die Handflächen graben, damit sie nicht zitterten.
Epap legt den Arm um Ben, der den Tränen nahe ist. Niemand sagt etwas. Sie hocken mit zerfurchter Stirn auf dem Teppich zwischen dem Kamin und dem Sofa, auf dem Sissy liegt. Ich streiche frische Salbe auf ihre Brandwunde. Inzwischen geht ihr Atem gleichmäßiger und weniger flach, ihre Stirn ist trocken. Die Wirkung der Betäubung lässt nach, und sie kommt langsam wieder zu sich.
»Aber wir wissen es nicht, oder?«, fragt Jacob. »Jedenfalls nicht sicher, stimmt’s? Die Zivilisation könnte das Gelobte Land sein. Der Zug könnte der Weg ins Paradies sein.«
»Vergiss nicht, was das Mädchen mit den Zöpfen gesagt hat«, erinnere ich ihn. »Sie hat uns gewarnt, vorsichtig zu sein.«
»Aber denk auch daran, was das andere Mädchen gesagt hat«, entgegnet er. »Wir sollen nicht hinter jedem Busch einen Teufel suchen. Vielleicht ist dieser Ort wirklich das Tor zum Paradies.«
Sissy stöhnt leise, die Augen noch immer geschlossen.
»Schau dir an, was dieselben Leute mit Sissy gemacht haben«, sage ich. »Wie kannst du irgendetwas glauben, was sie sagen?«
Jacob steht auf und geht ans Fenster. »Passt auf, ich hatte letzte Nacht einen Traum. Über die Zivilisation.« Er zögert, doch dann spricht er mit geröteten Wangen weiter. »Er war so real. Ich habe Stadien voller Menschen gesehen, die in der Sonne einen Sportwettkampf verfolgt haben, genau wiein den Büchern, die wir gelesen haben. Märkte unter freiem Himmel mit Hunderten verschiedener Stände, Sommerkonzerte auf grünen Wiesen, ganze Straßenzüge mit Restaurants, die ihre Tische auf den Bürgersteig stellen, Menschen, die im Freien sitzen und … Salat essen. Und es gab Vergnügungsparks mit Zauberschlössern und Karussells voller lachender Kinder, magische Bootsfahrten, umringt von den singenden Puppen, von denen der Forscher uns erzählt hat. Wir können nicht nicht dorthin fahren.«
»Komm, Jacob, das war bloß ein Traum. Auf so etwas können wir unsere Entscheidungen nicht gründen«, tadelt Epap ihn milde.
»Nicht verträumter als eure Hirngespinste.« Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Ich will ja bloß sagen, dass wir gar nichts wissen. Jedenfalls nicht mit Sicherheit.«
Alle schweigen. Ich werfe ein weiteres Stück Holz in den Kamin, und wir starren ins Feuer, als ob in dem flackernden Licht eine Antwort aufleuchten würde.
»Aber eins wissen wir sicher«, quiekt Ben plötzlich. »Nämlich, was der Ursprung ist.«
Alle Köpfe drehen sich in seine Richtung.
»Oder genauer gesagt, wer es ist.« Er zeigt mit dem Finger auf mich. »Du bist der Ursprung«, sagt Ben. »Das ist doch klar.«
»Ich? Wie kommst du denn darauf?«, frage ich, bemüht spöttisch, was mir jedoch nicht gelingen will. Ich bekomme am ganzen Körper eine Gänsehaut. Die Jungen starren michgenauso an wie vor ein paar Tagen auf dem Boot, als sie die Steintafel umgedreht und die eingravierten Worte gelesen hatten.
»›Lasst Gene nicht sterben‹«, sagt Ben.
»›Lasst Gene nicht sterben‹«, wiederholt Jacob langsam und nachdenklich, als wollte er jede Silbe einzeln kosten. Als sein Blick meinen trifft, reißt er die Augen auf. »Ben hat Recht. Der Ursprung ist keine Sache. Er ist eine Person. Du bist es. Du musst der Ursprung sein.«
Hinter mir knackt Holz im Kamin.
»Das ergibt schon irgendwie Sinn«, sagt Epap und zupft an seiner Unterlippe. »Ich meine, wir haben alles auf den Kopf gestellt. All unsere Sachen und Kleider durchsucht. Immer wieder sind wir das Notizbuch des Forschers durchgegangen. Ohne Ergebnis. Wenn der Ursprung ein Ding in unserem Besitz wäre, hätten wir es mittlerweile gefunden.« Er blickt zu Sissy auf dem Sofa. »Du hast gesagt, die Älteren glauben, es könnte irgendeine Inschrift sein, vielleicht Worte, die auf unsere Haut tätowiert wurden. Aber …«
»… dein Name. Es ist in deinem Namen«, sagt Ben und starrt mich an.
Gene .
»Was, wenn der Ursprung in deinen Genen ist?«, fragt Ben. »Genetik und so. Der ganze Kram mit der DNA , den uns der Forscher gelehrt hat.«
Sie glotzen mich an, als wären mir unvermittelt fünf Hände gewachsen. »Nee«, sage ich kopfschüttelnd.
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