Die Jäger des Lichts (German Edition)
zitternder Stimme. »Vielleicht hat er uns viel früher erwartet. Monate, Jahre früher. Als wir nicht auftauchten, dachte er vielleicht, er hätte uns im Stich gelassen und es deshalb nicht mehr verdient, in die Zivilisation zu fahren. Aber wir können sein Leben jetzt ehren, indem wir dorthin fahren, wohin er uns jahrelang führen wollte: in die Zivilisation.«
Ein gedankenschweres Schweigen senkt sich über den Raum.
»Ich weiß nicht, Jacob«, sagt Sissy leise. »Tut mir leid, aber irgendwas an der Zivilisation beunruhigt mich. Genauso wie der Tod des Forschers. Ich denke, wir ehren ihn am besten, indem wir wachsam bleiben und unseren Verstand benutzen. Wir müssen mehr in Erfahrung bringen, bevor wir in diesen Zug steigen.«
»Und wie lange wird das dauern? Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr?« Jacobs Blick fällt auf Sissys Brandmal. »Wir können nicht ewig hier bleiben.«
Sissy bemerkt, dass Jacob auf ihre Brandwunde starrt, und dreht ihren Arm halb herum. »Hier bekommen wir zu essen und haben ein Dach über dem Kopf«, sagt sie. »Dieses Mal, das sie mir verpasst haben, ist nichts. Ein Kratzer. Hat kaum wehgetan.« Sie lächelt ihm aufmunternd zu. »Hier wird es uns gut gehen.«
Jacob starrt auf seine Füße, und seine Augen werden feucht. »Du kennst mich, Sissy«, sagt er mit brüchiger Stimme. »Ich würde mich nie gegen etwas stellen, das du für uns entschieden hast. Wenn du sagst, du brauchst mehr Zeit, dann glaube ich dir. Aber finde es bitte schnell heraus, ja? Und versprich, dass du uns nicht einen Tag länger als nötig hier festhalten wirst.«
Sie geht zu ihm und zieht seinen Kopf an ihre Brust. Sein angespannter Körper gibt nach, er legt einen Arm um ihre Hüfte und drückt seinen bebenden Körper an ihren. Tränen strömen aus seinen geschlossenen Augen. »Keine Sekunde länger, okay, Großer? Du wirst es als Erster erfahren. Und hey, nicht weinen! Du bist jetzt zu alt für Tränen.«
Jacob nickt und wischt sich die feuchten Wangen ab.
»Du bist wirklich ein Dummkopf, weißt du das?«, sagt Sissy und zerstrubbelt ihm das Haar.
29
Sie machen es sich für die Nacht bequem. Die drei Jüngeren teilen sich das Bett, Sissy liegt auf dem Sofa, Epap auf dem Teppich. Ich stelle einen hohen Holzstuhl vor das Fenster im Flur. Ich will Wache halten, erkläre ich ihnen, für alle Fälle.
Im Zimmer nebenan höre ich ihre murmelnden Stimmen, sie sind in ein melancholisches Gespräch vertieft, bis sie irgendwann verstummen und man nur noch leises Schnarchen und ihre regelmäßigen, selbst im Schlaf noch synchronisierten Atemzüge hört. Ich überlege, mich dazuzulegen. Sie würden mir wie immer Platz machen. Aber dann bleibe ich doch auf meinem Stuhl sitzen und blicke aus dem Fenster. Ich muss allein sein.
Der sintflutartige Regen hört plötzlich auf. Nach einer Stunde tropft es auch nicht mehr von Dächern und Regenrinnen, und eine saubere Stille umhüllt die Nacht. Hier und da reißt die Wolkendecke auf, und gebrochenes Mondlicht fällt auf die Bergkette.
Gene.
Gene.
Hat er dir je gesagt, warum er dich Gene genannt hat ?
Meine Gedanken werden vom Knarren der Bodendielen unterbrochen. Sissy schwebt blass und fahl wie ein Gespenst den kurzen dunklen Flur hinunter, die Bettdecke wie ein Umhang über ihre Schultern gelegt.
»Warum kommst du nicht zurück ins Zimmer?«, fragt sie leise. Als ich nicht antworte, tritt sie neben mich. Unsere Schultern berühren sich beinahe, während wir beide aus dem Fenster blicken. Ihr Ärmel ist hochgekrempelt, ihr Unterarm in dunklen Schatten gehüllt.
Ich lege die Hand sanft auf ihren Arm und ziehe ihn ins Mondlicht. Das Brandmal sieht sogar noch schlimmer aus als zuvor, Eiter sickert aus der wulstigen Haut. »O Sissy.«
Ihr Blick wird hart, aber anders als vorher. Als sie ihren Schmerz vor den Jungen verbergen wollte, waren ihre Augen wie spiegelnde Schilde, doch nun kann ich an der funkelnden Härte vorbeisehen und die tiefe Verletzung und Wut dahinter erkennen.
Sie erzählt, dass sie sich an kaum etwas erinnert, nur an die Benommenheit nach dem Verzehr der Suppe, das Gefühl, weggetragen zu werden, und dann als Nächstes an das Aufwachen in meiner Hütte, wo sie feststellte, dass man sie gebrandmarkt hatte. »Ich bin sicher, sie haben mich auch durchsucht«, sagt sie, und selbst in ihrem Flüstern ist ihr Zorn noch hörbar. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist – zuwissen, dass sie es getan haben, oder sich nicht daran erinnern zu können.«
»Es tut
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