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Die Jäger des Lichts (German Edition)

Die Jäger des Lichts (German Edition)

Titel: Die Jäger des Lichts (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Fukuda
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anfühlt.
    »Gene.« Sissy tritt neben mich in die schmale Säule hellen klaren Mondlichts, in der ich stehe wie unter einem silbernen Zelt, und ihr Haar schimmert in sepiafarbenem Dunst.
    Sie blickt mir in die Augen und streicht mit den Fingern über meine Wange. Ich spüre jede Pore ihrer Fingerspitzen, ihre weiche Haut und die scharfe Kante des Fingernagels, als sie mein Kinn, meinen Hals und meinen Adamsapfel streift.
    Ich presse das Gesicht an den kalten Türrahmen, und eine reine Stille senkt sich über uns. »Eines Nachts, als ich sieben war, musste mein Vater einen Zahn suchen, den ich in der Schule verloren hatte; er war mehrere Stunden lang weg,aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ich war noch ein kleiner Junge und dachte, er wäre mit Sicherheit gefressen worden. Doch als ich die Hoffnung gerade aufgegeben hatte, kam er zurück, und ich nahm ihm das Versprechen ab, mich nie wieder allein zu lassen. Er sagte, das würde er nie tun, und selbst wenn es so aussehen würde, als ob er endlos lange weg wäre, würde er immer zurückkommen. Er hat versprochen, mich nie allein zu lassen.«
    Ich schüttle den Kopf und atme gepresst aus.
    »Warum hat er mir das versprochen, nur um mich dann doch im Stich zu lassen?«, frage ich. »Und warum führt er mich hierher, um mich ein weiteres Mal zu verlassen? Keine einzige Botschaft. Nicht ein einziges verdammtes Wort. Wie schwer kann es gewesen sein zu schreiben: ›Lieber Gene‹?«
    Sie streicht über meinen Kopf, ihre Finger gleiten durch mein Haar, ihre Haut streift mein Ohr.
    »Wenn es stimmt, dass ich der Ursprung bin, war ich dann für ihn nicht mehr als ein wissenschaftliches Projekt?«
    »Gene«, flüstert sie, fährt mit den Daumen über meine Wangenknochen und verwischt meine Tränen. Sie beugt sich langsam vor. Unsere Lippen berühren sich stumm wie zwei Wolken am Himmel und verschmelzen zum weichsten Punkt des Universums. Ich schließe die Augen.
    Und dann beginnt der Boden zu beben. Nur ganz leicht.
    Wir öffnen die Augen, und es ist, als bestünde mein gesamtes Sichtfeld – und alles, was auf der Welt wichtig ist – aus ihrer braunen Iris mit ihren funkelnden grünen Speichen. Ihre erweiterten dunklen Pupillen werden noch größer und ziehen mich an. Ich spüre, wie ihre Hände über meinen Rücken gleiten.
    Und dann packe ich sie, ziehe sie an mich, unsere Körper prallen aufeinander, unsere Arme finden endlich einen Weg. Eng umschlungen drücken wir uns fest aneinander, und es fühlt sich so richtig und so falsch an, dass ich nicht weiß, was ich machen soll, als sie noch fester zu halten. Unsere aneinandergepressten Stirnen pochen im Takt. Der Puls an ihrer Schläfe ist federleicht, und die Strähnen ihres Haars, die meine Haut berühren, fühlen sich an wie heilende Hände, die die Knoten in mir lösen.
    Und dann wird das Rumpeln deutlicher und erschüttert die gläsernen Messbecher im Labor. Sissy zieht ihren Kopf zurück, leere Landschaften machen sich zwischen uns breit.
    Wir lösen uns voneinander. »Was ist das?«
    Wir treten hinaus ins Freie. Der Boden unter unseren Füßen vibriert leicht, aber es ist das Geräusch, das uns noch mehr interessiert, ein metallisches Klappern und lautes Zischen von der anderen Seite des Waldes.
    »Der Zug«, sagt Sissy.
    Und dann bemerken wir noch etwas. In der Ferne haben sich Gruppen von Mädchen zu der Stelle aufgemacht, wo der Bahnhof sein muss. Wie schwarze Ameisen, die aus ihren Löchern gekrabbelt sind und gehorsam und stumm über die Weide marschieren, die mit Millionen glitzernden Regentropfen gesprenkelt ist.

31
    Sissy und ich drücken uns im Schutz der Bäume am Waldrand entlang. Auf der anderen Seite der bewaldeten Halbinsel stoßen wir auf eine große Lichtung mit Gleisen und Bahnsteigen, offenbar der Bahnhof. Dutzende von Mädchen sind schon geschäftig auf den beiden Bahnsteigen zugange. An der äußersten Spitze des Waldes kauern Sissy und ich uns hinter eine dunkle Fichte. Von Ästen gebrochenes Mondlicht sprenkelt den Boden.
    Zwischen den Bahnsteigen steht ein Zug. Nach der langen Fahrt dampft, zischt, tickt und klappert die Lokomotive, während sie langsam abkühlt. Dahinter sind mindestens zwölf Waggons aufgereiht wie schwarze Glieder einer Metallkette, alle vergittert wie große hässliche Vogelkäfige. Die Lücken zwischen den Stäben sind so eng, dass sich nicht einmal ein dünnes Kind hindurchzwängen könnte, trotzdem ist die Ladefläche den Naturelementen wie Regen, Schnee und

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