Die Jäger des Lichts (German Edition)
ich überall erkennen würde. Der meines Vaters.
»Er muss hier auch geschlafen haben«, sagt Sissy und zeigt auf eine Hängematte in der Ecke. »Eine Laborratte, die rund um die Uhr geforscht, experimentiert und studiert hat.«
Ich hebe ein Notizbuch auf. Es ist von vorn bis hinten voll mit unsinnigen chemischen Gleichungen und Formeln. Oder wenn sie eine Bedeutung haben, erschließt sie sich mir nicht. Für mich sehen sie aus wie das wirre, wahnhafte Werk eines Mannes, der bis über den Rand des Abgrunds gedrängt wurde.
»Ich habe alle Notizbücher durchgesehen«, sagt Sissy. »Überall das Gleiche, alle voll mit diesen Gleichungen. Erkennst du irgendeinen Sinn darin?«
Ich schüttle den Kopf und gehe mit suchendem Blick an den Wänden entlang. In einem hohen Glasschrank stehenendlose Reihen von Glasfläschchen, viele halb gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. »Was hat er hier drinnen gemacht? Woran hat er gearbeitet?«
Sissys Stimme vom anderen Ende des Labors klingt verhallt und weit entfernt. »Ich glaube, dass er die glühende grüne Flüssigkeit in den GlühBrenns entwickelt hat.« Sie kommt zu mir rüber, öffnet den Glasschrank und nimmt zwei Fläschchen heraus. Dann gießt sie den Inhalt der einen auf die Arbeitsplatte und verteilt sie zu einer kleinen Lache, bevor sie den Inhalt des zweiten Fläschchens darüberkippt. Sobald sich die beiden Flüssigkeiten mischen, leuchten sie grünlich.
»Soweit ich es den Notizbüchern entnehmen konnte«, sagt sie, »hat er mehrere Jahre daran gearbeitet, irgendeine alternative Lichtquelle oder so.« Sie hebt ein Notizbuch auf und klopft damit auf ihren Schenkel. »Ich habe mich gefragt, ob mehr dahintersteckt, irgendeine verborgene Absicht.«
Ich hebe ein weiteres Notizbuch auf. Noch mehr Gleichungen, chemische Formeln, aber kein einziger Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt, nicht mal ein kleines Personalpronomen. »Das ist es? Das ist alles, was er hier drin gemacht hat? An irgendeiner blöden Flüssigkeit arbeiten?« Ich blättere ein weiteres Notizbuch durch. »Da muss doch mehr sein.«
»Ich bin alle Notizbücher durchgegangen, Gene. Da ist nichts außer Formeln und Gleichungen im Zusammenhang mit der grünen Flüssigkeit.«
Ich bewege mich zwischen den Arbeitstischen und lasse suchend den Blick schweifen. Ich ziehe Schubladen mit schmutzigen Messbechern, Kolben, verschmierten Schutzbrillen und rostenden Metalllinealen auf. »Ein Zeichen, ein Hinweis, irgendwas. Es ist irgendwo hier drinnen.«
»Kann sein«, sagt Sissy. »Besonders wahrscheinlich ist es nicht, aber ich dachte, wenn ich etwas übersehen habe, entdeckst du es vielleicht.«
Ich öffne Glasschränke, schiebe Zylinder und Messbecher beiseite, suche nach eingeritzten Zeichen auf Arbeitstischen oder Löchern in der Wand, durch die ein Sonnenstrahl einfallen könnte. Aber auch nach einer Stunde sehe ich nur glatte, fade Leere. Ein nichtssagender stiller Schrei.
»Wir haben alles durchgesehen, Gene.« Sissy beißt sich auf die Unterlippe. »Hier ist nichts.«
Ich fange an, Regale mit Reagenzgläsern von den Arbeitstischen zu wischen, ohne mich darum zu kümmern, dass sie auf dem Boden zerschellen, trete Hocker aus dem Weg, zerre verstaubte Parkas und Schals von Holzhaken. Ich suche nach meinem Namen in Holz, Plastik oder Glas geschrieben, geritzt oder gemeißelt. Ich suche die Buchstaben G, E und N . Ich suche meinen Vater.
»Gene.«
Ich nehme weitere Notizbücher und blättere sie durch, stoße jedoch nur auf noch mehr unsinnige Gleichungen und Staub, der mir in die Augen steigt, sodass ich blinzeln muss. Meine Lider scheuern über meine Pupillen, bis meine Augenfeucht werden. So viel Zeit, um etwas aufzuschreiben, so viele Buchstaben. Aber nicht ein Mal die Buchstaben G, E und N hintereinander.
»Gene.«
Und dann packe ich wahllos Notizbücher, zerreiße den Einband, sodass ihr Rücken knackend bricht, und schleudere die zerrissenen Hälften gegen die Glasschränke. Ich lösche das Licht und lasse den Blick durch den Raum wandern, weil ich hoffe, dass irgendwo Buchstaben und Wörter im Dunkeln leuchten, eine geheime Botschaft für mich. Aber da ist nur schwarze Leere. Schließlich reiße ich die Tür auf, weil ich die stickige Luft nicht mehr ertrage. Meine Augen sind fester geschlossen als die Fäuste, mit denen ich gegen den Metallrahmen hämmere, mein geschundener Körper wird von einer Wut geschüttelt, die sich wie Trauer und Verzweiflung gleichzeitig
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