Die Jägerin (Die Anfänge) (German Edition)
lächelte. Er sah zufrieden aus. „Sie sind aus diesen Krisen gestärkt hervorgegangen. Das griechische Wort „Krisis“ bedeutet „Entscheidung“. Man hat immer die Wahl sich zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Sie hatten den Wunsch zu sterben, Ada, aber Sie haben es nicht getan. Sie haben am Boden gelegen, aber Sie sind wieder aufgestanden. Sie haben sich dazu entschieden weiterzuleben. Manchmal vergessen wir, was uns antreibt und wieso wir weitermachen. Was immer Sie angetrieben hat, die Motivation oder das Feuer, das in Ihrem Herzen brannte…Sie haben es wiedergefunden und daran festgehalten. Sie haben sich dazu entschieden, das hier,“ er wedelte mit den Armen herum, um zu verdeutlichen, dass er die Kirche meinte, „als eine neue Chance zu sehen. Die Chance ein neues Leben anzufangen und von dem was vorher war, loszulassen. Das war der Anfang, Ada! Jetzt müssen Sie weiter loslassen. Nach und nach. Ein Stück nach dem anderen, und dann werden Sie spüren, wie Sie befreiter leben können.“ Pater Michael war ganz außer Atem, als er geendet hatte. So sehr hatte er sich in diese Rede hineingesteigert.
Ich wollte ihm so gern glauben, aber in dem Moment fiel es mir schwer. Vielleicht würde ich irgendwann befreiter leben können. Wie er schon sagte. Ein Stück nach dem anderen. Und er musste nicht wissen, dass ich mir nur aus dem Grund nicht das Leben genommen hatte, weil ich zu feige dazu gewesen war.
Ich hatte das letzte Wort ausgesprochen. Dann wurde es still. Ich hörte den Reporter mir gegenüber nicht einmal atmen. Er starrte mich einfach nur fassungslos an. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll,“ meinte er.
Ich zuckte mit den Schultern. „Dazu kann man nicht viel sagen. Es ist, wie es ist. Sie verstehen also, wieso der Streit mit dem Pater ein Schlag unter die Gürtellinie für mich war, als er wieder von dieser Sache anfing. Und um ehrlich zu sein, hasste ich ihn dafür. Aber ich habe es ihm verziehen. Ich hatte ihn provoziert. Wer angegriffen wird, verteidigt sich auch. Das ist eine natürliche Reaktion.“
Der Reporter schüttelte den Kopf. Er empfand offensichtlich nur Unverständnis für Pater Michaels Verhalten. „Er ist ein Mann der Kirche. Er hätte nicht so mit Ihnen umgehen dürfen.“
Ich lächelte ihn an. Er hatte soeben einen weiteren Sympathiepunkt bei mir gesammelt. „Sicherlich war es nicht angebracht, und ich weiß auch, dass es ihm leid tat. So wie es mir leid getan hat. Wir haben uns einander vergeben. Wir blicken nach vorn und machen weiter,“ erwiderte ich.
Still dachte ich darüber nach, dass ich die schwierigen Zeiten vor meinem Umzug in die Kirche vielleicht hatte durchmachen müssen, um die einfachen Dinge im Leben wieder genießen zu können. Oftmals vergisst man, wie gut es einem geht. Und merkwürdigerweise wiegen die schlechten Erlebnisse meist mehr als die Guten. Wenn man mich fragte, fiel es mir leichter, mich an eine schlimme Sache zu erinnern, als an eine positive. Aber irgendwann hatte ich aufgehört, das zu tun, was andere von mir erwarteten und hatte angefangen, das zu tun, was ich wollte und fand dabei heraus, dass es auch noch schöne Dinge auf dieser Welt gab. Es waren nur Kleinigkeiten, denen viele von uns kaum Beachtung schenken. Wie den zarten Hauch des Windes im Haar zu spüren oder die bunten Farben am Abendhimmel. Sogar ein Buch, das uns in eine magische Welt entführen kann, sodass wir alles um uns herum vergessen. Auch ein Lied, dessen Text uns so persönlich anspricht, als würde er von unserem Leben erzählen, konnte wieder Mut aufkeimen lassen, sodass man weiterkämpfen konnte. All das konnte helfen, Kraft zu tanken. Man musste nur lernen, wieder auf diese Dinge zu achten.
Ich schrak aus meinen Gedanken auf, als mir der Reporter den Teller mit den Keksen entgegenstreckte und mir einen anbot. Für einen Moment starrte ich ihn verwirrt an, bis mir wieder einfiel, wo ich war und was ich hier tat. Dann lächelte ich dankbar. Ich nahm mir einen Schokoladenkeks und bestrich ihn mit Quark. Das war auch eine von den Kleinigkeiten, die man genießen konnte.
25. Komm raus, komm raus, kleines Monster!
Ich hatte den Reporter rechtzeitig auf den Heimweg geschickt. Zusammen mit Pater Michael aß ich zu Abend. Dann machte ich mich für einen nächtlichen Rundgang bereit. Pater Michael war zwar nicht begeistert, aber ich wollte so lange es noch ging auf Patrouille gehen und so viele Monster wie möglich vor meiner Zwangspause
Weitere Kostenlose Bücher