Die Jaegerin
Waffe ab. Vermutlich eine Pistole. Ungewöhnlich genug, dass ein Mann bewaffnet in ein Pub ging. Noch auffälliger jedoch waren die beiden Silberdolche am Gürtel seines Kameraden. Außerdem trugen alle drei Männer, wie die Frau vor ihm auch, Kreuze um den Hals. Zu ihren Füßen standen ihre Bündel auf dem Boden und an einem war ein Zweig Stechginster festgebunden. Diese Männer waren eindeutig auf der Jagd!
4
Catherine Bayne klappte den Folianten zu, in dem sie während der vergangenen Stunde gelesen hatte, und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Ihr Blick fuhr über die langen Bücherregale hin zu einem der schmalen Fenster. Dahinter kratzte die Nacht an die regennasse Scheibe. So spät schon? Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass es inzwischen dunkel geworden war, denn im Lesesaal war es so düster, dass der Bibliothekar ihr bereits zur Mittagsstunde eine Kerze gebracht hatte. Dabei muss ich mir gar keine Sorgen um meine Augen machen. Krankheiten und menschlicher Verfall konnten ihr nichts anhaben. Wenn sie sich verletzte, verspürte sie Schmerzen, doch ihre Wunden heilten schnell und hinterließen keine Narben. Sie bekam keine Falten und wurde auch nicht krank. Obwohl inzwischen fünf Jahre vergangen waren, besaß sie weiterhin den Körper einer jungen Frau, die das zwanzigste Lebensjahr noch nicht erreicht hatte. Einzig ihre Seele hatte unter Verletzungen zu leiden, die nicht heilen wollten.
Die Kerzenflamme fauchte leise, als Catherine den Stuhl zurückschob und sich erhob. Seit dem Morgen hatte sie ihren Tisch nur verlassen, um sich weitere Bücher zu holen oder nicht mehr benötigte Werke in die Regale zurückzustellen. Den größten Teil des Tages war sie allein geblieben. Es waren Semesterferien, sodass sich nur hin und wieder ein übereifriger Student hierher verirrt hatte. Von Zeit zu Zeit hatte der Bibliothekar seine Arbeit unterbrochen, um sie zu fragen, ob sie zurechtkam.
Catherines Augen wanderten über die langen Regalreihen, die den Lesebereich umgaben. Zu ihrer Linken führten ausgetretene Holzstufen auf eine Galerie, hinter deren Geländer sich weitere Regale erstreckten. Wie viel Zeit würde sie benötigen, um endlich eine Spur zu finden?
Seit sie in Edinburgh angekommen war, kam sie jeden Tag hierher. Der Bibliothekar wunderte sich sicher schon, warum sie keine Pausen machte und nie etwas aß. Wann hatte sie überhaupt das letzte Mal etwas zu sich genommen? Vor einigen Tagen? Oder war es bereits eine Woche her? Angesichts der Nachtmahre, die sie in dieser Stadt in regelmäßigen Abständen heimsuchten, fiel es ihr schwer zu sagen, wann sie tatsächlich das letzte Mal Blut gekostet hatte. Im Gegensatz zu den Träumen, in denen sie sich nach der roten Köstlichkeit verzehrte, hatte sie sich im wahren Leben nach all den Jahren noch immer nicht an den ekelhaft metallischen Geschmack gewöhnt. Es widerte sie derart an, dass sie die Nahrungsaufnahme jedes Mal so lange wie möglich hinausschob. Sehr viel länger jedoch würde sie es nicht mehr verzögern können. Andernfalls könnte sie die Kontrolle verlieren und wäre nicht mehr Herrin ihrer Sinne, wenn sie schließlich auf die Jagd ginge. Bisher war sie nur ein einziges Mal in diesen Zustand der Raserei verfallen. Etwas Derartiges wollte sie nie wieder erleben.
Sie hasste ihren Vater für das, was er ihr angetan hatte. Statt jedoch daraus zu lernen, hatte sie denselben Fehler begangen wie er. Wie konnte ich so selbstsüchtig sein! Anders als ihr Vater hatte sie aus Liebe gehandelt. Das hatte sie zumindest anfangs geglaubt. Die entsetzliche Gewissheit, Daeron an den Tod zu verlieren, hatte sie dazu getrieben. Doch selbst das edelste Motiv änderte nichts daran, was sie ihm angetan hatte.
Zeugin seiner Umwandlung zu sein, war, als durchlebe sie ihre eigene Veränderung ein weiteres Mal. Selbst wenn sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, welche Qualen er durchlitt, hätte sie gewusst, durch welche Hölle er ging. Sie hatte es kurz zuvor am eigenen Leib erfahren. Was er erlebte, war jedoch schlimmer. Er hatte nicht nur mit der Veränderung zu kämpfen, sondern auch mit einer Verwundung, die unter normalen Umständen tödlich gewesen wäre. Vier tiefe Risse von Roderick Baynes Klauen, die Daerons Fleisch und seine Eingeweide zerfetzt hatten. Catherine konnte zusehen, wie sie sich schlossen. Dabei dehnte sich die Haut und legte sich wie ein zum Zerreißen gespanntes Tuch über die klaffende
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