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Die Jaegerin

Die Jaegerin

Titel: Die Jaegerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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Sicherheit versprochen hatte, zu einem Fluch für die Stadt geworden. Die Zahl der Bewohner Edinburghs war gewachsen, doch die Eingrenzung war dieselbe geblieben. Dennoch wagte kaum jemand, sich außerhalb der Stadtmauer anzusiedeln. Die Folge war, dass die kleinen mit Stroh gedeckten Häuser abgerissen und durch andere, immer weiter in die Höhe wachsende Gebäude ersetzt wurden. Einst breite Straßen wurden zu schmalen Gassen, um den dort entstehenden Häusern mehr Platz zu bieten. Vierzigtausend Menschen lebten hier auf engstem Raum, zusammengepfercht in winzigen, fensterlosen Kammern und dunklen Kellern. In den Gassen stank es nach Kloake und Abfall. Einzig auf der Royal Mile und in den wenigen größeren Straßen, die von ihr abzweigten, war es etwas besser. Setzte man seinen Fuß jedoch in die schmalen Closes und Wynds, die zumeist durch einen Durchbruch in einem der Häuser zu erreichen waren, schien es, als betrete man eine vollkommen andere Welt. Eine Welt, in der selbst bei Tag kaum ein Lichtschimmer vermochte, zwischen den hohen, eng stehenden Häusern hindurch den Boden zu finden.
    »Dort!« Mihail deutete auf die Umrisse von St. Giles, die nicht weit entfernt aus der Nacht wuchsen. Selbst im strömenden Regen war der kronenförmige Turm der Kathedrale deutlich zu erkennen. »Wir sind gleich da!«
    Mihails Worte waren kaum verklungen, da blieben Gavril und Vladimir stehen. »Hier ist es.« Gavril zeigte auf einen weiteren Durchgang, über dem in verwitterten Lettern ein Schriftzug prangte. Alexandra musste die Augen zusammenkneifen, um ihn im schwachen Schein einer Straßenlaterne entziffern zu können. Mary King’s Close. Das war also der Ort, nach dem Vladimir suchte. Der Ort, an dem sich der letzte Mord ereignet hatte.
    »Ich verstehe immer noch nicht, was das soll, Vladimir«, knurrte Alexandra unwirsch. »Es ist viel zu dunkel, um etwas zu erkennen. Wie willst du da Spuren finden?«
    Vladimir antwortete nicht. Er zog seine Pistole und trat in den Durchgang. Nach wenigen Schritten verschlang ihn die Finsternis. Mihail folgte ihm. Einzig Gavril hielt kurz inne. »Manchmal entdeckt man im Schutze der Dunkelheit mehr als am helllichten Tag«, sagte er, ehe auch er in den Schatten verschwand. Da begriff Alexandra, was Vladimir hier wollte. Er war nicht an Spuren interessiert. Er hoffte die Kreatur zu finden.
    Widerwillig folgte sie den dreien. Sie trat in den Durchgang und das Licht schwand. Schon bald wies ihr nur noch ein schwacher Schimmer den Weg. Nach zwei weiteren Schritten war auch er vergangen. Schwer legte sich die Dunkelheit über Alexandra; dick und zäh, als ließe sie sich berühren. Sie kniff die Augen zusammen und spähte in die Finsternis. Sollte am Ende des Durchgangs nicht Licht zu erkennen sein? Wenigstens ein grauer Schimmer? Doch da war nichts als Schwärze. Ein widerlicher Geruch erfüllte die Luft, abgestanden und faulig. Alexandra tat einen weiteren Schritt nach vorn. Ein einziger Schritt, der unzählige Male von den Wänden widerhallte, ehe sein Echo endgültig verklang. Wie lang war dieser Durchgang? Er konnte doch kaum mehr als fünfzehn oder zwanzig Schritt messen. Warum waren die Männer nicht zu sehen oder wenigstens zu hören? Sie lauschte in die Dunkelheit, versuchte ihre Schritte und Stimmen auszumachen, doch das einzige vernehmbare Geräusch war ihr eigener Atem. Die Finsternis war so absolut, dass sie das Gefühl bekam, die Orientierung zu verlieren. Ging sie noch geradeaus? Sie hielt inne und sah sich um. Von der Royal Mile zwängte sich schwacher Laternenschimmer in den Durchgang, wo er sich rasch verlor. Sobald sie sich umdrehte, versank der Weg wieder in undurchdringlichen Schatten. Alexandra streckte die Hand zur Seite und griff nach der Wand. Das Mauerwerk fühlte sich kalt und glitschig unter ihren Fingern an. Tot. Obwohl sie die Hand am liebsten zurückgezogen hätte, ließ sie ihre Finger weiterwandern und ertastete sich den Weg. Nach wenigen Schritten bekam die Dunkelheit Risse, wurde durchlässig, bis sie endlich den Close vor sich ausmachen konnte. Die schmale Gasse war zu beiden Seiten von zwölf Stockwerke hohen Häusern flankiert, die sich dort dicht an dicht drängten. Der Weg war so steil, dass die Häuser sich gegen den Hang zu lehnen schienen, um nicht zu stürzen. Jedes von ihnen schief, die meisten baufällig. Hier wohnten die Ärmsten der Armen, zusammengezwängt in winzigen Räumen. Kaum eine der kleinen Kammern hatte ein Fenster oder einen

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