Die Jaegerin
versuchte Alexandra zu entscheiden, was sie jetzt tun sollte. Wie kam es, dass sie in letzter Zeit immer dann, wenn sie der Hilfe der Jäger bedurft hätte, allein dastand? Warum bin ich überhaupt noch mit euch unterwegs, wenn ihr nie da seid? Mit der Vampyrin wäre sie allein fertig geworden. Nicht jedoch mit ihm. Schon letzte Nacht hatte er ihr deutlich gezeigt, dass sie ihm nicht gewachsen war. Sie konnte nichts weiter tun, als ihnen zu folgen und zu hoffen, dass sie sie geradewegs zu ihrem Unterschlupf führen würden. Sobald Alexandra wusste, wo sie sich verbargen, würde sie die Jäger holen.
Nahm sie nicht bald die Verfolgung auf, würde sie sie aus den Augen verlieren. Schon jetzt war die Vampyrin in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen. Verließ Alexandra ihr Versteck sogleich, lief sie jedoch Gefahr, dem anderen Vampyr geradewegs in die Arme zu laufen. Was, wenn es eine Falle war? Alexandra konnte sich nicht vorstellen, dass er ihre Anwesenheit in der Bibliothek nicht bemerkt haben sollte. Womöglich war seine Gefährtin der Köder, und sobald Alexandra anbiss, würden sie über sie herfallen und sie töten. Noch immer unentschlossen schob sie sich ein Stück näher an die Straßenecke heran, als sie ein Geräusch vernahm. Es kam vom Eingang zur Bibliothek. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet. Lauerte er ihr von dort aus auf? Er mochte stärker sein als sie, doch Alexandra war keineswegs dumm. So einfach würde sie sich nicht übertölpeln lassen. Sie presste sich dicht an die Wand und wartete. Wie lange könnte es dauern, bis er ungeduldig wurde?
Sie bereitete sich auf eine lange Zeit des Wartens vor, als das Eingangsportal plötzlich aufgerissen wurde und der Vampyr auf die Straße stürmte. Überrascht beobachtete sie, wie er einer Droschke nachsetzte, die soeben um eine Ecke bog.
»Was zum …?« Alexandra wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, doch sie fürchtete um das Leben der ahnungslosen Passagiere. Sie rannte los, der Droschke und dem Vampyr hinterher. Als sie um die Ecke hetzte, sah sie, wie der Vampyr das Gefährt erklomm. Doch er machte keine Anstalten, in die Kabine vorzudringen. Er stand hinten auf dem Trittbrett und rührte sich nicht. Was war das für ein eigenartiges Jagdverhalten?
Alexandra winkte rasch eine herannahende Droschke herbei. »Folgen Sie dieser Karosse, aber ohne viel Aufsehen zu erregen!«, wies sie den verdutzten Kutscher an und stieg ein.
Zu ihrem Erstaunen machte der Kutscher seine Sache gut. Er löschte sogar die Kutschlaterne. Ruckend bewegte sich das Gefährt über das unebene Kopfsteinpflaster. Alexandra öffnete das Fenster und sah hinaus. Sie hatten ausreichend Abstand, sodass der Kutscher vor ihnen sie nicht erkennen konnte. Mehr Sorgen bereitete ihr der Vampyr, der sich immer noch am hinteren Teil der Droschke anhielt. Doch sosehr Alexandra es befürchtete – er wandte sich kein einziges Mal um. Seine Aufmerksamkeit galt der Droschke und dem, was sich vor ihm befand. Sie verließen die Stadt durch das westliche Tor und fuhren zwischen lang gezogenen Hügeln und Wiesen hindurch, der Meerenge des Firth of Forth entgegen. Die Fahrt erschien ihr endlos, dennoch konnten es kaum mehr als zwei oder drei Kilometer gewesen sein, seit sie Edinburgh mit seinen dicht gedrängten Häusern hinter sich gelassen hatten. Eine Weile folgten sie der breiten Straße, ehe der Kutscher auf einen schmäleren Weg bog. Plötzlich hielt er sein Gefährt an und wandte sich Alexandra zu.
»Sie haben gestoppt«, raunte er.
Alexandras Blick wanderte die Straße entlang, weiter voran und fing sich an einem mächtigen Herrenhaus, das – von einer hohen Steinmauer umgeben – stolz auf der Kuppe eines Hügels thronte. »Was ist das für ein Ort?«
»Das ist Lauriston House.«
»Wer wohnt hier?«
Der Kutscher zuckte die Schultern. »Früher einmal war das eine befestigte Burganlage. Heute jedoch ist es nichts weiter als ein Herrenhaus. Jeder könnte dort wohnen.«
Alexandra stieg aus. Das Gefährt, dem sie gefolgt waren, hatte vor einem massiven Eisentor angehalten. Soeben wurde einer der Torflügel geöffnet. Mit einem Ruck setzte sich die Droschke in Bewegung und rollte langsam auf das Grundstück. Alexandras Augen wanderten über die massiven Torflügel, hin zur Mauer, die das gesamte Areal zu umgeben schien. Sie griff in ihre Tasche und fischte ein paar Münzen hervor, die sie dem Kutscher gab. Dann deutete sie auf eine Baumgruppe, die
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