Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jagd am Nil

Die Jagd am Nil

Titel: Die Jagd am Nil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Adams
Vom Netzwerk:
andere sahen, wie er schwitzte. Er zeigte ungern Anzeichen von Schwäche. Zweiundfünfzig Jahre alt, kerzengerade Haltung, graues Haar, stechender Blick, Hakennase. Nie ohne eine Bibel unterwegs. Nie ohne sein Predigergewand. Ein Mann, der stolz darauf war, durch seine unbeugsame Entschlossenheit die unwiderstehliche Stärke Gottes schimmern zu lassen. Doch der Schweiß war nicht aufzuhalten. Es lag nicht nur an der Schwüle in diesem engen, dunklen unterirdischen Labyrinth. Es lag an dem Schwindelgefühl, das ihn überkam, weil er kurz vor seinem Ziel war.
    Gut dreißig Jahre früher war Peterson ein Punk gewesen, ein Kleinkrimineller, der ständig mit dem Gesetz in Konflikt stand. Eines Nachts in Haft, dösend auf einer Polizeipritsche, hatte er auf ein hoch oben an der Wand hängendes Heinrich-Hofmann-Bild von Jesus geschaut. Plötzlich hatte sein Herz wild zu rasen begonnen, wie bei der schlimmsten Panikattacke, die jedoch genauso plötzlich in die grellste und klarste Vision seines Lebens übergegangen war: ein blendend weißes Licht, eine Erscheinung. Danach war er von der Pritsche getaumelt und hatte nach einer Spiegelfläche gesucht, um zu sehen, welche Wirkung sie auf ihn gehabt hatte; ob seine Haare gebleicht, seine Haut verbrannt und seine Augen rot waren. Zu seinem Erstaunen hatte sie keinerlei äußere Veränderung bewirkt. Und hatte dennoch alles geändert. Die Erscheinung hatte ihn im Inneren
verwandelt
. Weil kein Mensch das Gesicht Jesu anschauen kann und unberührt bleibt.
    Er tupfte sich noch einmal die Stirn ab und wandte sich dann an Griffin. «Fertig?», fragte er.
    «Ja.»
    «Dann los.»
    Er trat zurück, während Griffin und Michael den ersten Steinquader aus der Zwischenwand hoben, um den Hohlraum dahinter freizulegen, auf den sie bei ihren Bohrungen gestoßen waren. Griffin nahm seine Taschenlampe und schwenkte sie durch die Öffnung. Ihr Strahl erleuchtete eine große Kammer, in der Schatten und Farben flackerten und die bei seinen jungen Studenten Gemurmel und Erstaunen hervorrief. Peterson aber gab nur Nathan und Michael das Zeichen, die Wand weiter abzutragen.
    Es stand in der Heiligen Schrift:
Der Herr sieht mit anderen Augen als der Mensch; der Mensch schaut auf die äußere Erscheinung, der Herr aber schaut auf das Herz.
Während jener Nacht in Untersuchungshaft hatte der Herr auf
sein
Herz geschaut. Der Herr hatte etwasin ihm gesehen, von dem er selbst nicht gewusst hatte, dass es da war.
    Die Lücke war jetzt so groß, dass Griffin hindurchsteigen konnte, doch Peterson legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Nein», sagte er. «Ich gehe zuerst.»
    «Es sollte ein Archäologe machen.»
    «Ich gehe zuerst», wiederholte Peterson. Er berührte den rauen, zerbröckelten Mörtel und stieg in die neue Kammer.
    Jene Nacht hatte ihn nicht nur verwandelt, ihm war auch ein Ziel gegeben worden. Von allen Geschenken Gottes war es vielleicht das größte. Es war nicht einfach gewesen. Er hatte Jahre mit den mittelalterlichen Legenden vom Turiner Grabtuch und dem Schweißtuch der heiligen Veronika verschwendet. Trotzdem hatte er nie gezweifelt oder ans Aufgeben gedacht. Der Herr hatte ihm solch eine Mission nicht aus einer Laune heraus anvertraut. Und schließlich hatte Peterson die richtige Spur gefunden, war ihr hartnäckig gefolgt und stand nun kurz vor dem Ziel. Er spürte es. Er
wusste
es. Die Zeit der Erleuchtung nahte so sicher wie der Sonnenaufgang.
    Er schwenkte seine Taschenlampe durch die Kammer. Sie war dreißig Schritte lang und zehn breit. Alles war mit Staub bedeckt. Im Boden war ein tiefes Bad eingelassen, eine breite Treppenflucht führte hinunter, durch eine niedrige Steinmauer geteilt, damit die Gemeindemitglieder schmutzig auf der einen Seite hinabsteigen und gereinigt auf der anderen auftauchen konnten. Die Wände waren in der Antike verputzt und bemalt worden, die Farbpigmente waren durch die Zeit, Spinnweben, Dreck und Insektenspuren getrübt. Mit der Hand wischte er eine kleine Stelle sauber und leuchtete mit der Taschenlampe auf die freigelegte Szene. Eine in Blau gekleidete Frau mit einem Kind auf dem Schoß. Ihm kamen die Tränen.
    «Reverend! Schauen Sie!»
    Als er sich umdrehte, sah er, wie Marcia mit ihrer Taschenlampe die gewölbte Decke anstrahlte. Sie sollte den Himmel repräsentieren. Nahe des höchsten Punkts war eine leuchtende, hellrote Sonne aufgemalt, umgeben von gelben Sternenkonstellationen, einem samtenen Vollmond und roten Planeten. Tag und Nacht

Weitere Kostenlose Bücher