Die Jagd am Nil
um an die Tür zu klopfen. Ihr Gesicht glühte angesichts halb aufgeschnappter Bemerkungen. Einmal hatte sie einen streunenden Hund gesehen, der von zwei Jungen in einen Garten gelockt worden war, damit sie ihn dort mit Steinen bewerfen konnten. Lily hatte ihren Kopf eingezogen und war davongelaufen, weil sie Angst davor gehabt hatte, was sie sagen würden, wenn sie sich einmischte. Tagelang hatte sie das Jaulen und Winseln des Hundes verfolgt, nie hatte sie sich ihre Feigheit verziehen. Ihr ganzes Leben war von ihrem Muttermal bestimmt, von einem Muttermal, das nicht einmal mehr da war.
«Ich bin nicht so», schrie sie in die Dunkelheit. «Ich bin nicht so, okay? Dafür habe ich nicht gelebt.»
Es war einfach, theoretisch über den Tod nachzudenken. Der Gedanke an den eigenen Tod hatte etwas Nobles, Romantisches, ja, er war sogar gerechtfertigt. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Wenn man dem Tod tatsächlich ins Auge sah, hatte man nur entsetzliche Angst. Wieder begann sie, heftig zu zittern. Sie kniff die Augen zusammen, um nicht zu weinen, und zog Gaille fester an sich. Sie hatte nie an Gott geglaubt, ihre Sicht auf die Welt war dafür viel zu pessimistisch gewesen. Doch es gab Menschen, die an Gott glaubten, Menschen, die sie respektierte. Vielleicht wussten sie, wovon sie sprachen. Lily faltete im Wasser ihre Hände.
Lass mich leben,
betete sie schweigend.
Ich will leben. Ich will leben. Bitte, Gott, lass mich leben.
IV
Claire wurde durch die Flure des Polizeireviers in ein kleines Verhörzimmer mit schmierigen gelben Wänden gezerrt, in dem ein furchtbar beißender Gestank hing. Farooq ließ sie auf einem harten Holzstuhl sitzen, den er absichtlich mitten in den Raum gestellt hatte, damit sie sich nicht einmal hinter einem Tisch verstecken konnte. Dann tigerte er um sie herum, fuchtelte wild mit seiner Zigarette und beugte sich immer wieder ruckartig so nah zu ihr herab, dass er seinen Speichel auf ihrem Gesicht verteilte. Sie wagte nicht, ihn abzuwischen. Wie sich herausstellte, war er recht sprachbegabt. Er beschimpfte sie auf Arabisch, Französisch und Englisch und nannte sie eine Hure, eine Diebin, eine Schlampe, ein Miststück. Und er wollte, dass sie ihm sagte, wo Peterson und die anderen steckten.
Claire hasste Konflikte. Das war schon immer so gewesen. Sie fühlte sich sofort unwohl und wollte so schnell wie möglich eine Versöhnung herbeiführen. Doch sie erinnerte sich an das, was Augustin ihr gesagt hatte. «Ich will einen Anwalt», sagte sie.
Farooq riss die Arme hoch. «Glauben Sie, ein Anwalt kann Ihnen helfen? Ist Ihnen nicht klar, in welchen Schwierigkeiten Sie stecken? Sie werden ins Gefängnis gehen, Frau. Und zwar für Jahre.»
«Ich will mit einem Anwalt sprechen.»
«Sagen Sie mir, wo Peterson ist.»
«Ich will mit einem Anwalt sprechen.»
«Oder die anderen. Ich will ihre Namen. Sagen Sie mir, in welchem Hotel sie gewohnt haben.»
«Ich will mit einem Anwalt sprechen.»
«Ich hole mir einen Kaffee», fauchte Farooq. «Sie dämlichesMiststück. Sie sollten schleunigst zur Vernunft kommen. Das ist Ihre einzige Chance.» Er stürmte hinaus und knallte die Tür so laut hinter sich zu, dass Claire zusammenzuckte.
Hosni hatte die ganze Zeit mit verschränkten Armen an der Wand gelehnt und sich weder gerührt noch eingemischt. Doch jetzt sah er sie mit hochgezogenen Augenbrauen amüsiert an, stellte einen Stuhl schräg vor ihren und setzte sich. Sofort legte sich die angespannte Stimmung. «Ich hasse das alles», seufzte er. «Es ist nicht richtig, nette Menschen einzuschüchtern. Aber er ist mein Chef. Ich kann nichts dagegen tun.»
«Ich will mit einem Anwalt sprechen.»
«Passen Sie auf, Sie müssen eines verstehen. Farooq ist heute blamiert worden. Er hat vor seinen Leuten das Gesicht verloren. Er braucht einen Erfolg, egal wie klein er ist. Damit er den anderen etwas vorweisen kann, verstehen Sie. Ich verteidige ihn nicht. Ich sage Ihnen nur, wie es ist. Geben Sie ihm etwas, irgendetwas, und Sie sind aus dem Schneider, sofort.»
Sie zögerte. Augustin hatte versprochen, sie nicht im Stich zu lassen, doch sie hatte sich auf dem Rücksitz des Polizeiwagens immer wieder umgeschaut und nichts von ihm gesehen. Sie musste daran denken, dass sie ihn erst seit kurzem kannte und kaum etwas von ihm wusste. Eigentlich hatte sie abgesehen von ihrem Instinkt und ihrem Gefühl keinen Grund, ihm zu vertrauen. «Ich will mit einem Anwalt sprechen.»
«Tut mir leid. Das ist nicht
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