Die Jagd am Nil
«Sie versperren mir den Blick.»
Gaille schaute sich hilflos um. Lily hatte bereits Aufnahmen von der Grenzstele gemacht, und nun baute Stafford die Kamera auf, um sich selbst vor dem Hintergrund der Wüste zu filmen. Gaille hatte nur die Wahl, ihm entweder im Weg zu stehen oder im Bild zu sein.
«Kommen Sie», sagte Lily und deutete auf einen schmalen Pfad, der den Hang hinaufführte. «Ich habe meinen Teil getan.»
Loser Schiefer machte den steilen Aufstieg tückisch, doch bald gelangten sie auf ein Plateau, von dem man einen großartigen Blick über die kahle Sandsteinebene bis zu dem schmalen Grüngürtel hatte, der den Nil säumte.
«Mein Gott!», murmelte Lily. «Stellen Sie sich vor, hier zu leben.»
«Warten Sie mal den Mittag ab», sagte Gaille. «Oder kommen Sie im Sommer zurück. Hier würde man nicht einmal ein Gefängnis bauen.»
«Aber warum hat Echnaton dann diesen Ort gewählt? Es muss doch noch andere Gründe gegeben haben, als die zwischen den Felsen aufsteigende Sonne.»
«Amarna war jungfräuliche Erde», sagte Gaille. «Dieser Ort ist nie einem anderen Gott geweiht gewesen. Vielleicht war das wichtig.Und Sie dürfen nicht vergessen, dass Ägypten ursprünglich eine Fusion zweier Länder gewesen ist, Ober- und Unterägypten, die immer um die Herrschaft wetteiferten. Da hier die Grenze zwischen den beiden Gebieten verlief, hat es Echnaton vielleicht für praktisch gehalten, von hier aus zu regieren. Aber es gibt auch andere Theorien.»
«Welche?»
Gaille zeigte nach Norden, wo der Bergkamm auf den Nil zulief. «Da hinten hat Echnaton seinen Palast bauen lassen. Es gibt dort ausreichend natürlichen Schatten, und es ist nah genug am Nil, um schöne Gärten und Wasserbecken anlegen zu lassen. Wenn er im Hauptteil von Amarna zu tun hatte, ließ er sich in seinem Wagen fahren, neben dem Soldaten herlaufen mussten, um ihn vor der Sonne abzuschirmen.»
«So konnte man es sicherlich gut aushalten.»
«Ja, wenn man privilegiert war. Im Haupttempel des Aton gab es unzählige Opfertische. Während der Zeremonien war jeder einzelne üppig mit Fleisch und Obst und Gemüse gedeckt. Trotzdem weisen die menschlichen Überreste auf den Friedhöfen hier deutliche Spuren von Blutarmut und Unterernährung auf. Und dann gibt es einen berühmten Brief eines assyrischen Königs namens Assur-uballit. ‹Warum lässt man meine Boten in der prallen Sonne stehen? Sie werden in der prallen Sonne sterben. Wenn es dem König beliebt, in der prallen Sonne zu stehen, so soll er es tun. Aber warum müssen meine Leute leiden? Sie werden umkommen.›»
Lily runzelte die Stirn. «Glauben Sie, dass er ein Sadist war?»
«Ich halte es für möglich. Wenn man einmal annimmt, dass Ihr Chef recht hat und Echnaton an einer schrecklichen Krankheit litt, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass es ihm Freude gemacht hat, andere leiden zu sehen, oder?»
«Stimmt.»
«Aber das ist nur eine Vermutung, ich weiß es nicht mit Sicherheit. Niemand weiß es genau. Ich nicht, Fatima nicht, Ihr Chef nicht. Wir haben einfach nicht genügend Beweise. Sie sollten versuchen, das Ihren Zuschauern verständlich zu machen. Ihr Film wird nur auf Vermutungen basieren und nicht auf Fakten. In jeder Hinsicht.»
Lily kniff die Augen zusammen. «Geht es um das, was Fatima uns gestern Abend erzählt hat?»
«Was meinen Sie?»
«Diese
talalat
, die Echnaton ohne Genitalien zeigen. Ihnen ist nicht wohl dabei, nicht wahr? Deswegen sind Sie zu Bett gegangen.»
Gaille spürte, wie sie rot wurde. «Ich bin nur der Meinung, dass es zu früh ist, um Schlüsse daraus zu ziehen.»
«Weshalb hat sie uns dann davon erzählt?»
«Dies ist ein wunderbarer Teil Ägyptens. Die Menschen sind bezaubernd, die Geschichte ist geheimnisvoll, aber es gibt kaum Besucher. Fatima möchte das ändern.»
«Und wir sind der Köder?»
«So würde ich das nicht sagen.»
«Schon in Ordnung», sagte Lily grinsend. «Im Grunde freut es mich sogar. Ich möchte, dass der Film etwas Gutes bewirkt.»
«Danke.»
Lily nickte. «Darf ich Ihnen eine wirklich dumme Frage stellen? Sie beschäftigt mich, seit wir hierhergekommen sind, aber ich habe mich nicht getraut zu fragen.»
«Natürlich.»
«Es geht um die Aussprache. Das antike ägyptische Alphabet hatte doch keine Vokale, oder? Woher wissen Sie dann, wie diese Namen ausgesprochen werden, zum Beispiel Echnaton oder Nofretete?»
«Die Frage ist alles andere als dumm», erwiderte Gaille lächelnd. «Die Wahrheit ist,
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