Die Jagd beginnt
Große und kleine, schlanke und mollige, dunkle und blonde, mit langem oder kurzem Haar, lose herabhängend oder zu Zöpfen gebunden … Ihre Kleider unterschieden sich voneinander wie die der Behüter. Man konnte genauso viele verschiedene Schnitte und Farben sehen wie Frauengestalten. Aber auch sie wirkten auf eine Art gleich, und die Gleichheit fiel nur auf, weil sie nun so dicht beieinander standen. Es war unmöglich, ihr Alter zu bestimmen. Aus dieser Entfernung hätte er sie an sich alle als jung bezeichnet, aber er wusste, dass sie aus der Nähe wie Moiraine sein würden. Scheinbar jung und doch nicht, mit glatter Haut, aber Gesichtern, die zu viel Reife zeigten, um jung zu sein, und deren Augen zu viel Wissen ausstrahlten.
Näher heran? Narr! Ich bin jetzt schon zu nahe. Licht noch mal, ich hätte den langen Weg nehmen sollen. Er schob sich weiter seinem Ziel entgegen, einer weiteren eisenbeschlagenen Tür am hinteren Ende des Hofs, aber er konnte den Blick nicht abwenden.
Die Aes Sedai ignorierten gelassen die Zuschauer und widmeten ihre Aufmerksamkeit der von Vorhängen verhüllten Sänfte, die nun in der Mitte des Hofs stand. Die Pferde, die sie getragen hatten, standen so still, als würden sie von Stallburschen am Geschirr gehalten, aber neben der Sänfte stand nur eine einzige hoch gewachsene Frau mit dem Gesicht einer Aes Sedai, und sie beachtete die Pferde gar nicht. Der Stab, den sie mit beiden Händen senkrecht hielt, war genauso lang wie sie. Die vergoldete Flamme an seinem oberen Ende befand sich über ihren Augen.
Lord Agelmar stand stämmig und eckig und mit undurchschaubarem Gesicht der Sänfte gegenüber. Auf seinem dunkelblauen Mantel mit dem hohen Kragen waren sowohl die drei rennenden Rotfüchse des Hauses Jagad als auch der sich duckende schwarze Falke von Shienar zu sehen. Neben ihm stand Ronan, vom Alter gezeichnet, aber immer noch groß. Am oberen Ende des langen Stabs, den der Shambayan trug, befanden sich drei Füchse aus rotem Avatin. Ronan war Elansu in der Verwaltung der Festung gleichgestellt, Shambayan und Shatayan , aber Elansu ließ ihm wenig übrig, sodass er eben für Zeremonien zuständig war und als Lord Agelmars Sekretär fungierte. Die Haarknoten beider Männer waren schneeweiß.
Alle – die Behüter, die Aes Sedai, der Herr von Fal Dara und sein Shambayan – standen stocksteif und schweigend da. Die wartende Menge schien die Luft anzuhalten. Unwillkürlich verlangsamte Rand seine Schritte.
Plötzlich stieß Ronan seinen Stab laut vernehmlich dreimal auf das Pflaster des Hofs und rief in die Stille hinein: »Wer kommt hier? Wer kommt hier? Wer kommt hier?«
Die Frau neben der Sänfte klopfte mit ihrem Stab dreimal zur Antwort. »Die Wächterin über die Siegel. Die Flamme von Tar Valon. Die Amyrlin.«
»Warum sollen wir denn wachen?«, wollte Ronan wissen.
»Um der Menschheit die Hoffnung zu erhalten«, antwortete die hoch gewachsene Frau.
»Wogegen stehen wir Wache?«
»Gegen den Schatten zur Mittagszeit.«
»Wie lange sollen wir wachen?«
»Von der aufgehenden Sonne bis zur aufgehenden Sonne, solange sich das Rad der Zeit dreht.«
Agelmar verbeugte sich. Die Haare um seinen weißen Knoten wehten im leichten Wind. »Fal Dara entbietet Euch Brot und Salz und unser Willkommen. Es ist gut, dass die Amyrlin nach Fal Dara kommt, denn hier wird die Wache gehalten, und hier wird der Pakt gewürdigt. Willkommen.«
Die große Frau zog den Vorhang der Sänfte weg, und die Amyrlin trat in Erscheinung. Sie hatte dunkles Haar und war ebenso alterslos wie alle Aes Sedai. Sie richtete sich auf und musterte dabei die versammelten Zuschauer. Rand zuckte zusammen, als ihr Blick über ihn huschte; er hatte dabei das Gefühl einer Berührung. Aber ihr Blick wanderte weiter und ruhte schließlich auf Lord Agelmar. Ein livrierter Diener kniete neben ihr nieder und bot ihr auf einem Silbertablett zusammengefaltete Handtücher an, aus denen noch Dampf aufstieg. Förmlich wischte sie sich die Hände ab und betupfte ihr Gesicht mit einem feuchten Tuch. »Ich entbiete Euch meinen Dank für Euer Willkommen, mein Sohn. Möge das Licht das Haus Jagad segnen. Möge das Licht Fal Dara und alle seine Einwohner segnen.«
Agelmar verbeugte sich erneut. »Ihr ehrt uns, Mutter.« Es klang irgendwie gar nicht komisch, dass sie ihn Sohn und er sie Mutter nannte, obwohl Angelmar mit seinem zerfurchten Gesicht eher wie ihr Vater aussah – oder sogar wie ihr Großvater. Die Amyrlin besaß eine
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