Die Jagd beginnt
natürlich zu gehen, aber mit den Satteltaschen auf der Schulter und den Bündeln auf dem Rücken war ihm durchaus bewusst, dass er aussah wie ein Mann, der zu einer Reise aufbricht und nicht vorhat zurückzukommen. Die Trompeten erklangen wieder. Hier, innerhalb der Festung, klangen sie schwächer.
Er hatte ein Pferd, einen großen braunen Hengst, im nördlichen Stall, den man den Stall des Lords nannte und der sich in der Nähe des Ausfalltors befand, das Lord Agelmar benützte, wenn er ausritt. Allerdings würde heute weder der Herr von Fal Dara noch eines seiner Familienmitglieder ausreiten, und der Stall müsste bis auf die Stallburschen leer sein. Es gab zwei Wege, auf denen man von Rands Zimmer aus den Stall des Lords erreichen konnte. Einer führte ganz außen um die Festung herum, hinter Lord Agelmars privatem Garten durch, an der Rückseite der Festung entlang und durch die Hufschmiedewerkstatt, die jetzt wohl auch verlassen war, zum Stallhof. Auf diesem Weg wäre genug Zeit, um Befehle auszugeben und eine Suche zu beginnen, bevor er bei seinem Pferd war. Der andere Weg war viel kürzer: erst über den äußeren Hof, wo gerade jetzt die Amyrlin mit einem Dutzend oder mehr Aes Sedai eintreffen würde.
Bei dem Gedanken bekam er eine Gänsehaut; er hatte von den Aes Sedai mehr als die Nase voll – es reichte ihm fürs ganze Leben. Eine war schon zu viel. All die Geschichten sagten das aus, und er wusste, dass sie Recht hatten. Er war nicht weiter überrascht, als ihn seine Beine in Richtung des äußeren Hofs trugen. Er würde das legendäre Tar Valon niemals sehen – das konnte er weder jetzt noch später riskieren –, aber er könnte immerhin einen Blick auf die Amyrlin erspähen, bevor er ging. Das war ja fast so, als ob er eine Königin sähe. Es kann nicht gefährlich sein, wenn ich nur aus der Entfernung hinschaue. Ich werde dabei weitergehen und weg sein, bevor sie jemals erfährt, dass ich da war.
Er öffnete eine schwere, eisenbeschlagene Tür zum äußeren Hof und trat in eine schweigende Welt. Auf den Wehrgängen der Mauern standen die Menschen dicht gedrängt: Soldaten mit Haarknoten und livrierte Diener und Arbeiter in ihrer verschmutzten Arbeitskleidung. Alle drückten sich eng aneinander. Kinder saßen auf den Schultern und spähten über die Köpfe ihrer Eltern hinweg oder quetschten sich durch die Menge und lugten hinter Hüften und Knien hervor. Jede Schützenplattform war voll gepackt wie ein Fass Äpfel, und selbst in den engen Schießscharten der Mauer zeigten sich Gesichter. Wie eine weitere Mauer stand eine dichte Menschenmenge am Rand des Hofs aufgereiht. Und alle beobachteten und warteten schweigend.
Er drückte sich an der Mauer entlang, vorbei an den Ständen der Schmiede und Pfeilmacher, die um den Hof herum aufgebaut waren. Fal Dara war eine Festung und kein Palast, trotz der Größe und der düsteren Pracht, und alles um die Festung herum war zweckgebunden. Rand entschuldigte sich leise bei den Leuten, die er anrempelte. Ein paar musterten ihn finster und warfen einen Blick auf seine Satteltaschen und die Bündel, aber keiner brach das Schweigen. Die meisten kümmerten sich noch nicht einmal darum, wer sie angerempelt hatte.
Er konnte mühelos über die Köpfe der meisten hinwegblicken. Es reichte, um erkennen zu können, was im Hof vor sich ging. Neben dem Tor stand eine Reihe von sechzehn Männern bei ihren Pferden. Nicht zwei von ihnen trugen die gleiche Rüstung oder die gleiche Art von Schwert, und keiner sah wie Lan aus, doch Rand hatte keine Zweifel daran, dass sie Behüter waren. Runde Gesichter, kantige Gesichter, lange Gesichter, schmale Gesichter, aber sie wirkten alle irgendwie gleich, als sähen sie Dinge, die andere Männer nicht sehen, hörten Dinge, die andere Männer nicht hören. Sie standen entspannt da und wirkten doch so tödlich wie ein Rudel Wölfe. Nur etwas an ihnen war gleich: Alle ohne Ausnahme trugen die farbverändernden Umhänge, wie er zuerst einen bei Lan gesehen hatte, der sich häufig so sehr dem Farbton des Hintergrunds anpasste, dass er kaum noch zu bemerken war. Das machte es schwer, sie zu beobachten, konnte einem auch mitunter den Magen umdrehen, und dann auch noch gleich so viele Männer in solchen Umhängen!
Ein Dutzend Schritte vor den Behütern stand eine Reihe von Frauen vor ihren Pferden. Die Kapuzen ihrer Umhänge hatten sie zurückgeschlagen. Jetzt konnte er sie zählen. Vierzehn. Vierzehn Aes Sedai. Das mussten sie sein.
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