Die Jagd beginnt
wollte Nynaeve wissen. Liandrin antwortete nicht, und Nynaeve blickte sich zornig nach den anderen um. »Warum reiten wir immer tiefer in diesen Wald hinein? Wir müssen eine Brücke überqueren oder ein Schiff nehmen, wenn wir Tar Valon verlassen wollen, und hier drinnen gibt es weder eine Brücke noch …«
»Aber dafür das hier«, verkündete Liandrin. »Der Zaun soll nur jene abhalten, die hier zu Schaden kommen könnten, doch wir mussten heute hierher kommen.« Worauf sie deutete, war eine hohe, dicke, hochkant stehende Platte, anscheinend aus Stein gehauen, deren eine Seite mit einem komplizierten Fries aus Blättern und Ranken verziert war.
Egwenes Kehle zog sich zusammen. Mit einem Mal wusste sie, warum Liandrin Laternen mitgenommen hatte. Der Grund gefiel ihr überhaupt nicht. Sie hörte Nynaeve flüstern: »Ein Eingang zu den Kurzen Wegen.« Sie erinnerten sich beide nur zu gut an die Kurzen Wege.
»Wir haben es einmal überstanden«, sagte sie genauso zu sich selbst wie zu Nynaeve. »Also werden wir es auch beim zweiten Mal überstehen.« Wenn Rand und die anderen uns brauchen, dann müssen wir ihnen helfen. Das sollte wohl reichen. »Ist das wirklich …?«, begann Min mit erstickender Stimme und konnte dann den Satz nicht beenden.
»Ein Tor zu den Kurzen Wegen«, hauchte Elayne. »Ich habe nicht geglaubt, dass man die Kurzen Wege noch benutzen kann. Zumindest dachte ich, es sei verboten.«
Liandrin war bereits abgestiegen und pflückte das Avendesora -Blatt aus dem Fries. Wie zwei riesige, aus lebenden Ranken bestehende Torflügel öffnete sich der Eingang und gab den Blick auf etwas frei, das wie ein matter, silberner Spiegel wirkte, in dem sie sich schwach widerspiegelten. »Ihr müsst nicht mitkommen«, sagte Liandrin. »Ihr könnt hier auf mich warten in der Sicherheit des umzäunten Gebiets, bis ich euch abhole. Aber vielleicht finden euch die Schwarzen Ajah eher als ich.« Ihr Lächeln wirkte nicht gerade angenehm. Hinter ihr öffnete sich das Tor vollends und blieb offen stehen.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mitkomme«, sagte Elayne, doch dabei warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf den schattigen Wald. »Wenn wir schon da hineingehen«, sagte Min heiser, »dann los.« Sie starrte den Eingang an, und Egwene glaubte, sie murmeln zu hören: »Das Licht soll dich verbrennen, Rand al’Thor.«
»Ich muss als Letzte gehen«, sagte Liandrin. »Hinein, ihr alle. Ich folge euch.« Sie blickte nun in Richtung des Waldes, als fürchte sie, jemand könne ihnen gefolgt sein. »Schnell! Schnell!«
Egwene wusste nicht, was Liandrin zu sehen erwartete, aber falls irgendjemand kam, könnte man denjenigen daran hindern, das Tor zu benutzen. Rand, du wollköpfiger Idiot , dachte sie, warum kannst du nicht zur Abwechslung einmal in Schwierigkeiten hineinstolpern, bei denen ich nicht gezwungen bin, die Heldin aus dem Märchen zu spielen? Sie hieb Bela die Fersen in die Flanken, und die zerzauste Stute, sowieso nervös vom langen Stehen im Stall, sprang mit einem Satz los. »Langsam!«, rief ihr Nynaeve hinterher, doch es war zu spät. Egwene und Bela jagten auf ihre matten Spiegelbilder los; zwei zerzauste Pferde berührten sich an den Nasen und schienen ineinander zu verschmelzen. Dann verschmolz auch Egwene unter einem eisigen Schock mit ihrem Spiegelbild. Die Zeit schien sich zu strecken, als kröche die Kälte Haar für Haar über ihren Körper, und bei jedem Haar dauerte es minutenlang.
Plötzlich stolperte Bela durch pechschwarze Nacht. Sie bewegte sich so schnell, dass sie sich beinahe überschlagen hätte. Sie fing sich jedoch und stand zitternd da, während Egwene schnell herunterkletterte und an den Beinen der Stute entlangfühlte, ob sie sich verletzt habe. Sie war beinahe froh über die Dunkelheit, die ihr hochrotes Gesicht verbarg. Sie wusste, dass sowohl die Zeit als auch die Entfernungen auf der anderen Seite eines Wegetors ganz anders verliefen. Sie hatte sich unbesonnen verhalten.
In jeder Richtung erstreckte sich nur die Dunkelheit, außer dort, wo das Rechteck des geöffneten Tors wie ein von hinten beleuchtetes Rauchglasfenster schimmerte. Es ließ in Wirklichkeit kein Licht nach innen durch – die Schwärze schien sich direkt dagegenzupressen –, aber Egwene konnte die anderen sehen, die sich stark verlangsamt bewegten: Gestalten in einem Albtraum. Nynaeve bestand darauf, den anderen die Laternen zu geben und sie zu entzünden. Liandrin stimmte mürrisch zu und bestand
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