Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Verhoeven ihr das Foto eines 180-Liter-Beckens auf seinem iPhone gezeigt hatte, hatte Corinna Schilling genickt.
Danach hatten sie sich getrennt.
Verhoeven wollte mit ein paar Eltern sprechen und anschließend zu Bernd Kobschütz fahren, jenem Mann, der Ende der 90er Jahre zwei Frauen und ein sechzehnjähriges Mädchen vergewaltigt hatte. Winnie hingegen hatte sich erboten, eine Erzieherin des katholischen Kindergartens, die gestern keinen Dienst gehabt hatte, zu befragen. Doch das Gespräch war nicht besonders ergiebig gewesen: Die Deutsch-Griechin hatte glaubhaft versichert, in den vergangenen Wochen keinerlei verdächtige Beobachtung gemacht zu haben. Und nein, sie wisse leider auch von keinem Vater oder Nicht-Vater, der ein Aquarium besitze oder einen silbernen Ford mit Frankfurter Kennzeichen fahre.
Winnie hatte sich verabschiedet und nach ein paar quälenden Minuten in der Backofenhitze ihres Polos beschlossen, sich noch einmal auf dem Gelände des Kindergartens umzusehen. „Sehen Sie sich den Ort eines Verbrechens an“, hatte einer ihrer Ausbilder ihnen immer wieder eingebläut. „Sehen Sie genau hin. Etwas, von dem, was Sie suchen, ist dort. Etwas, das in keine Beweistüte passt, in kein Reagenzglas, etwas, das die Kameras nicht aufnehmen, das aber dennoch vorhanden ist.“
Winnie war gerade dem schmalen, gepflasterten Weg gefolgt, der am Zaun des Kindergartens entlang zur Straße führte, als ihr Handy geklingelt hatte. Links befand sich eine knapp mannshohe Hecke. Dahinter der Parkplatz. Es ist eigentlich ganz einfach gewesen, dachte sie. Fast ohne Gefahr …
Sie hielt das Handy trotz der Schmerzen mit der verletzten Hand fest und schlug ihren Notizblock auf. „Ich gebe zu, ich war mir nicht ganz sicher“, wandte sie sich wieder an ihre Gesprächspartnerin. „Aber nachdem ich das mit den vielen Verletzungen gelesen hatte, schien mir diese Variante sehr naheliegend zu sein.“
„Zunächst einmal möchte ich betonen, dass es unmöglich ist, anhand von so subjektiven Dokumenten wie Briefen zu mehr als einer ersten vagen Einschätzung zu gelangen“, dämpfte Dr. Frescobaldi ihren Enthusiasmus mit der üblichen Vorsicht der Expertin.
Ja, ja, dachte Winnie. Schon gut, schon gut.
„Das, worüber wir hier sprechen, ist lediglich eine Möglichkeit.“
„Sicher doch.“ Sie setzte einen entschiedenen Punkt unter das Wort, das sie in ihren Notizblock geschrieben hatte. „Aber Sie halten es durchaus für möglich, dass Lilli Dahls Mutter an dieser Krankheit gelitten hat oder noch leidet?“
„Genau genommen handelt es sich beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom um eine psychoneurotische Störung“, stellte die Psychologin klar.
Winnie verdrehte die Augen. Erbsenzählerei!
„Betroffen sind fast ausschließlich Frauen“, fuhr die Ärztin in einem Ton fort, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihrer Gesprächspartnerin in diesen Dingen nur eine sehr geringe Vorbildung zutraute. „Die Täterinnen täuschen bei ihren Kindern oder anderen Schutzbefohlenen Krankheitssymptome vor oder erzeugen sie künstlich, indem sie etwa bereits vorhandene Erkrankungen willentlich verschlimmern.“
„Ich verstehe.“
„Durch die zwangläufig folgenden Untersuchungen und die Aufmerksamkeit der Ärzte steigern die Frauen ihr Selbstwertgefühl und befriedigen ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Geborgenheit, was manchmal so weit geht, dass sie auch während eines stationären Klinikaufenthaltes nicht davor zurückschrecken, ihre Kinder zu quälen. Ihr Einfallsreichtum beim Erzeugen von Krankheitssymptomen ist übrigens erschreckend.“ Sie machte eine Pause, vielleicht, um Winnie die Gelegenheit zu geben, Fragen zu stellen. „Mir ist ein Fall bekannt, bei dem eine Mutter ihrem zweijährigen Sohn mit einem Hammer die Beine brach, und zwar gleich mehrfach. Als diese Sache ausgereizt war, ging sie dazu über, bestehende Fleischwunden des Kindes mit Fäkalien und Seifenlauge zu infizieren, damit sie nicht heilten, und durch ständige Blutabnahmen erzeugte sie eine künstliche Anämie.“
Winnie verzog das Gesicht.
„Das Phänomen ist seit einiger Zeit bekannt, aber hierzulande noch weitgehend unerforscht. Es gibt ein paar hundert beschriebene Fälle, allerdings dürfte die Dunkelziffer weit darüber liegen.“
„Würde ein gewöhnlicher Arzt eine solche Störung bei der Mutter einer Patientin in Erwägung ziehen?“
„Unwahrscheinlich“, entgegnete Dr. Frescobaldi ohne Zögern. „Sie dürfen nicht
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