Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
ihm die verrät, friert die Hölle ein!
„Wie heißt du?“
„Vielleicht lassen Sie das arme Kind erst mal zu Atem kommen“, protestiert die Nette.
Hinter ihr sind noch mehr Leute stehen geblieben. Sie stehen und glotzen.
Ein alter Mann zückt seine Geldbörse. „Ich kaufe die Tafeln“, schlägt er vor. „Dann hat die liebe Seele Ruh.“
Der Fürchterliche wird immer nervöser, weil er fühlt, dass die Stimmung zu seinen Ungunsten kippt. „Vielleicht ist sie von zu Hause weggelaufen“, sagt er, um die Gaffer von sich abzulenken.
„Bist du weggelaufen?“, fragt die Nette in ihrem Kindergärtnerinnen-Tonfall.
Miriam Lauterbach schüttelt den Kopf.
„Und willst du uns nicht vielleicht doch verraten, wie du heißt?“
6
Ma-ma. Ma-ma. MA-MA.
Verhoeven spulte das Band zurück. Etwas an der Art, wie Corinna Schilling das Wort aussprach, gab ihm zu denken. Sie imitierte, so viel war klar. Aber wen? Ein anderes Kind? Ausgeschlossen, dachte er, das würde sie erzählt haben. Also den Entführer.
Den Onkel.
Ma-ma …
Gehörte das zum Spiel? Wurde er am Ende in der Gegenwart eines Kindes selbst wieder zum Kind?
Es gab solche Kerle. Erwachsene Männer, die Windeln trugen und sich die Flasche geben ließen. Aber solche Bedürfnisse befriedigte man normalerweise nicht in den eigenen vier Wänden. Verhoeven wusste von Clubs, die über komplett eingerichtete Kinderzimmer verfügten. Alles in Übergröße. Nein, dachte er. Es muss etwas anderes dahinter stecken.
Er warf zwei Aspirin in ein Glas mit Wasser und sah zu, wie sie sich auflösten. Die Erschöpfung saß ihm wie Blei im Nacken. Die Hitze, die einfach nicht nachlassen wollte, obwohl alle von einem komplett verpfuschten Sommer sprachen. Kaum Schlaf. Dazu dieser Alptraum, den er gehabt hatte, letzte Nacht erst.
Ein Kind, ein Mädchen, lief vor einem wütenden Vater davon. Er hatte die Kleine sehr deutlich gesehen und war sich zugleich sicher, ihr noch nie begegnet zu sein. Nicht im wirklichen Leben. Und auch nicht auf einem Foto. Trotzdem sah er jedes Detail ihres Gesichts vor sich. Von dem Vater, der das Kind verfolgte, hatte er dagegen nichts als einen Schatten wahrgenommen. Das Mädchen aus seinem Traum hatte ein geblümtes Kleid getragen und war einen Abhang hinunter gerannt, der immer steiler und unebener wurde. Dabei hatte es wiederholt über seine Schulter geblickt, wo der Vater inzwischen bedrohlich nahe gekommen war, so dass es vor lauter Schreck gestolpert und hingefallen war.
Als nächstes hatte Verhoeven sich selbst gesehen, wie er das Kind auf den Rücken drehte. Er hatte die Stricknadel gesehen, die in der zarten Brust gesteckt hatte, und seine Hände waren voller Blut gewesen, rot wie der Mohn hinter Jasper Fennrichs Hütte. Seine Finger hatten sich zitternd über das Herz des sterbenden Mädchens gelegt, und er hatte gefühlt, wie der schmale Brustkorb unter dem Druck nachgab. Und seltsamerweise war ihm sogar im Traum bewusst gewesen, dass er erst ein Jahr zuvor in einer ganz ähnlichen Situation gewesen war. Im so genannten wahren Leben, als er vergeblich versucht hatte, Karl Grovius, seinen geliebten Partner und Ersatzvater, wieder in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Aber im Gegensatz zu Grovius hatte das Mädchen aus seinem Traum urplötzlich die Augen aufgeschlagen.
„Was tun Sie denn?“, hatte es mit einem merkwürdigen Ausdruck in der matten Stimme gefragt. „Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?“
Und dann hatte Verhoeven auf einmal dieses Lachen gehört, Schmitz’ Lachen, direkt über sich. Ein Lachen, so gewöhnlich wie der Name des Mannes, zu dem es gehörte.
Er hatte das sterbende Mädchen losgelassen und zu Schmitz aufgeblickt, doch zu seiner größten Überraschung war es Jasper Fennrich gewesen, der auf ihn heruntergesehen und gelacht hatte.
Jasper Fennrich mit Schmitz’ Lachen auf den Lippen …
„Ich habe Ihnen doch von Anfang an gesagt, dass Sie nichts finden“, hatte er gehöhnt, und Verhoeven war schweißgebadet erwacht.
„Was ist?“, hatte Silvie gefragt, die neben ihm aus dem Schlaf geschreckt war. „Hattest du wieder einen von diesen Alpträumen?“
Er hatte genickt. Ja, er hatte einen Alptraum gehabt. Nicht direkt „einen von diesen“, den üblichen, die ihn seit seiner Kindheit in nachlassender Intensität heimsuchten, aber einen Alptraum. „Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“
„Willst du darüber sprechen?“
„Nein.“
Ich kann nicht darüber
Weitere Kostenlose Bücher