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Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)

Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)

Titel: Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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das Gesicht.
     
     
    Einmal, ich glaube, es war in meinem letzten Jahr auf der Grundschule, habe ich auf dem Nachhauseweg die Abkürzung über den Friedhof genommen, weil ich so großen Hunger hatte, denn ich hatte an dem Morgen mein Pausenbrot liegenlassen und seit dem Frühstück noch nichts gegessen. Die Gärtner hatten Pause, weil Mittag war, und als ich schon fast am hinteren Tor war, sah ich auf einmal ein offenes Grab. Die Erde war links und rechts der Grube zu zwei großen Haufen aufgeschüttet und das Loch mit einem grünen Teppich ausgelegt.
    Ich bin hingegangen, ohne lange nachzudenken, und ich hatte auch keine Angst, denn ich dachte ja, das Grab würde auf jemanden warten. Irgendeine arme Seele, die noch in der Leichenhalle lag und erst noch geschminkt werden musste oder so was Ähnliches.
    Also ging ich hin …
    Die Erde rund um die Grabstelle war weich und trocken und fühlte sich ganz leicht an, und ich weiß noch, dass ich dachte, so schlimm, wie man immer glaubt, kann das ja eigentlich gar nicht sein, das Sterben. Aber als ich nahe genug dran war, fiel ich fast in Ohnmacht, denn das Grab da vor mir war gar nicht leer.
    Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was ich sah, und als ich es endlich erfasste, konnte ich mich vor lauter Schreck zuerst gar nicht rühren, denn dort unten lag ich selbst!
    Ich hatte die Augen geöffnet und trug dasselbe  Spaghettiträgertop, das ich auch in der Realität anhatte, gelb mit kleinen roten Streublumen. Es hat mir nie gestanden, aber weil es das einzige Top war, das ich besaß, trug ich es klaglos, vor allem, wenn es heiß war.
    Der Boden gab unter meinen Füßen nach, während ich nach unten starrte, und ich sah, wie ich blinzelte, als mir ein bisschen von der losen Erde in die Augen fiel. Und dann war mir auf einmal, als sähe ich die Welt vom Grunde dieses Grabes aus! Es war ein eigentümlicher Moment, dieser Augenblick, in dem sich die Perspektiven verschoben: Ich sah den weiten blauen Himmel und mich selbst, dieses Mal oben, am Fußende der Grube, stehen.
    Dabei fällt mir ein: Ist das nicht die Position, die der Tod einnimmt, wenn man verloren ist? Na, egal. Jedenfalls ist das nächste, an das ich mich erinnere, die alte Lampe mit den drei goldenen Kelchen an der Decke unseres Wohnzimmers. Mein Vater hat später behauptet, die beiden Totengräber, die mich nach Hause gebracht haben, hätten einen höllischen Schreck bekommen, als sie mich da plötzlich im offenen Grab liegen sahen. Noch dazu, wo doch der Trauerzug mit dem richtigen Toten schon unterwegs gewesen ist. Aber ob das stimmt oder ob er nur einen Scherz gemacht hat, weiß ich nicht …
    Das Licht verrät mir, dass Jasper bald zurück sein muss. Denn zum Leichenschmaus bleibt er unter Garantie nicht. Also mach ich wohl besser Schluss.
     
    Bis morgen, Welt,
    Lol   Lilli
     
     
    Winnie ließ die Folie sinken und schloss die Augen, die sich heiß und sandig anfühlten. Die Erschöpfung erwischte sie so unerwartet wie Verhoevens Frage vorhin in der Gaststätte und schlug ihre Krallen in ihr Fleisch, bevor sie sich ihrer überhaupt bewusst geworden war.
    Wie geht es eigentlich Ihren Eltern?
    Das Gesicht ihres Vorgesetzten flimmerte hinter dem dünnen Häutchen ihres Lides. Teilnahmsvoll zuerst, dann zunehmend befangen. Sie wusste, sie hatte nicht so reagiert, wie er es von ihr erwartet hatte. Das tat sie praktisch nie. Auch so ein Umstand, der ihr eines Tages das Genick brechen konnte.
    Winnie massierte sich die Schläfen, die mit einem Mal höllisch wehtaten. Das Licht der Halogenlampe, die sich über Lilli Dahls Briefe wölbte, schien sich selbst noch durch ihre geschlossenen Lider zu bohren. Wie feine Nadelstiche. Und aus der Stille drang, wie aus weiter Ferne, wieder Clara Haskils Klavierspiel an ihr Ohr. Mozarts F-Dur-Sonate, die sie ihrer Schwester so oft vorgespielt hatte, um sie zur Rückkehr in die Welt der Lebenden zu motivieren.
    „ Es hat keinen Zweck“, hatte einer der Ärzte ihr einmal gesagt. „Ellis Gehirn ist zerstört.“
    Aber das hatte sie ihm nicht glauben wollen. Nicht glauben können.
    „Hör dir das an“, hatte sie ihrer Schwester ins Ohr geflüstert, wieder und wieder. „Hör genau zu. Bevor das aufgenommen wurde, hat sie jahrelang in einem Gipskorsett gesteckt. Hör zu, was man schaffen kann!“
    Sie schluckte. Clara Haskil hatte jahrelang in einem Gipskorsett gesteckt und war erfolgreich an einem Gehirntumor operiert worden. Das Musterbeispiel eines Menschen, der

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