Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
dem Schicksal trotzte.
„Das schaffst du auch“, hatte sie geflüstert, mehr zu sich selbst als an Elli gewandt. „Du wirst wieder Mozart spielen. Du wirst wieder laufen. Und alles wird wieder gut sein.“
Sie schlug die Augen auf und starrte auf ihr Briefpuzzle hinunter. Auf den Eintrag vom zwölften Juli. Damals durfte ich übrigens ausnahmsweise auch mal ein Kleid tragen . Die Buchstaben verwässerten unter ihrem Blick. Aber es wäre ja auch zu komisch gewesen, wenn ich meine erste heilige Kommunion in Hosen empfangen hätte. Ein rührender Bericht über einen ganz besonderen Tag. Also bekam ich ein Kleid. Es war nicht so schön wie das von Rosemarie, aber immerhin war es weiß und glänzte und ich fühlte mich beinahe wie ein Mädchen darin …
„ Schluss damit!“ Winnie riss den Blick von den flüchtig hingeworfenen Zeilen los. Ein ganz besonderes Kleid. Genau wie das, das ihre Schwester am Tag ihres Unfalls getragen hatte.
Das Ausmaß des Schmerzes, der bei dieser Assoziation über ihr zusammenschlug wie eine turmhohe Welle, nahm ihr einige Sekunden lang buchstäblich den Atem. Deine Schwester hat dir eine Kassette mit all ihren Lieblingsstücken aufgenommen, zuckte es durch ihren Kopf. Aber du hast nicht einmal verstanden, was sie dir da geschenkt hat. Sie hatte ihr bestes Kleid an. Nur für dich. Zur Feier deines Abiturs. Deine kleine Schwester wollte hübsch sein für dich, aber du hast nur an Timo Wendel gedacht. Du hast nicht einmal fünf Minuten mit ihr verbracht, an diesem Abend. Im Gegenteil, du hast es genossen, dass dieses eine Mal du diejenige warst, die im Mittelpunkt steht. Dabei hatte die Elli, die du kanntest, zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Minuten zu leben.
Sie vergrub den Kopf in den Händen und verspürte mit einem Mal ein geradezu elementares Bedürfnis, sich zu bestrafen. Mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, in dem unsinnigen, irrwitzigen Bemühen, die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, zu sühnen und im Schmerz so etwas wie Erlösung zu finden. Sie wollte aufstehen, aber ihre Knie zitterten zu sehr. Dafür streifte ihr Blick das Wasserglas auf dem Tisch …
In ihrem Kopf wogte nach wie vor Clara Haskil, aber die F-Dur-Sonate war in Fetzen gerissen. Eine Art von Musik, die mit Mozart nicht das Geringste zu tun hatte. Winnie lauschte dem Missklang und sah ihre Hand über der Tischplatte schweben. Wie einen Fremdkörper. Sie hörte das Knacken von brechendem Glas, dann ein Knirschen. Scherben, die sich in ihren Handteller bohrten. Und doch empfand sie gar nichts.
Regungslos saß sie da und sah ihr eigenes Blut an, das dunkelrot und zäh aus den Wunden quoll und sich mit den Tränen mischte, die von ihrem Kinn hinunter auf die verletzte Haut tropften.
Sie empfand nichts.
Keinen Schmerz.
Keine Trauer.
Nicht einmal mehr Schuld.
Nur eine stumpfe, allumfassende Leere, die sich hinter ihrer Stirn ausbreitete wie eine weiche, wattige Wolke. Sie wuchs an, dehnte sich, löschte den Mozart und stoppte schließlich, nach einer Zeitspanne, von deren Dauer sich nicht einmal die entfernteste Vorstellung hatte, auch das Zittern. Das sinnlose, erschöpfende Zittern.
DREI
1
JULI 2007
Miriam Lauterbach beobachtet Chantal und Gina-Marie, die in den weiten, unnatürlich blauen Himmel schaukeln und das herrliche Gefühl haben, fliegen zu können. Sie sieht ihre von der Hitze geröteten Gesichter, die sich vor dem Grün der Bäume auf und ab bewegen, und wartet.
Irgendwann sind sie müde.
Irgendwann hören sie auf.
Irgendwann machen sie Platz.
Und dann …
Sie stutzt, als sie den Ausdruck in Chantals Augen bemerkt , als diese gerade wieder mal an ihr vorbeisegelt. Ich weiß, was du vorhast , sagt ihr Blick. Aber da kannst du warten, bis du schwarz wirst. Weggegangen, Platz vergangen.
Nur Geduld, denkt Miriam und schaut sich nach ihrer Mutter um, die mit zwei anderen Frauen auf einer Bank sitzt, mitten in der prallen. Sie kann nicht hören, was sie sprechen, dazu sitzen sie zu weit entfernt, aber sie sieht, dass sie lachen. Auch ihre Mutter lacht. Raucht und lacht. Lacht und blickt sich nach dem Mann um, der ein paar Meter entfernt die Hecke beschneidet, die den Spielplatz von der Straße trennt. Er ist nackt, zumindest oberhalb dieser knallengen Jeans, die er trägt, und ganz braun. Die anderen Mütter gucken auch und lachen noch mehr, als er einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche nimmt.
Chantal fliegt zurück. Rückwärts vom Himmel herunter. Ihre
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