Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
nicht.
„Ich merke, dass ich von meinen Eltern in der Vergangenheit schreibe“, flüsterte Lilli Dahl ihr zu, sie, deren Stimme Winnie Heller nie gehört hatte, und die sie sich trotzdem irgendwie hell vorstellte, „dabei weiß ich gar nicht, ob sie nicht vielleicht doch noch leben. Jasper sagt es mir nicht, obwohl ich ihn schon tausendmal danach gefragt habe. Er brummt nur, dass mich das nicht zu scheren habe, aber sie sind nun mal meine Eltern, und da schert es mich eben doch ein bisschen.“
Winnie Heller stutzte, als sich unvermittelt etwas wie Musik in den Klang von Lilli Dahls Stimme mischte, und erst mit ein paar Sekunden Verzögerung wurde ihr klar, dass auch die Melodie, die sie jetzt immer deutlicher hörte, nur in ihrem Kopf existierte. Genau wie Lillis Stimme. Genau wie Clara Haskil.
Vielleicht werde ich allmählich verrückt, dachte sie, während sie den fremden und zugleich seltsam vertrauten Klängen nachlauschte. Irgendwann drehe ich durch. Und dann lande ich wieder dort, wo ich hergekommen bin. In einer Anstalt!
Obwohl ihr der Gedanke eine Heidenangst machte, versuchte sie, sich ganz auf die Melodie in ihrem Kopf zu konzentrieren, als sie langsam durch das hohe Gras zur Hütte zurückging. Klaviermusik, ganz eindeutig, doch dieses Mal war es nicht Clara Haskil, die spielte.
Es war Elli!
Winnie kniff die Augen zusammen. Da waren einzelne Töne, die vor ihr aufblitzten wie Erinnerungen. Bruchstücke einer Melodie. Dann wieder ein Akkord, dunkel und schwer. Die Töne, die sie hörte, hatten etwas seltsam Bedrängendes, etwas, das zu diesem See passte. Ja, dachte sie, da ist irgendeine Verbindung zwischen diesen Tönen und dem Ort, an dem ich stehe. Irgendeine Assoziation …
Sie blieb stehen und schloss die Augen. Wie hieß dieses Stück, das sie da zu hören glaubte, noch gleich?
Von Zeit zu Zeit hellte sich die Stimmung ein wenig auf, doch kurz darauf zerfaserte die Melodie wieder in diese eigenartig abgehackten Phrasen. Winnie biss sich a uf die Lippen. Sie hatte ihre Schwester genau diese Melodie üben hören. Für einen Wettbewerb. Vor ihrem inneren Auge erschien ein mit rot bestuhlter Saal. Der Geruch von Sommerregen, entfernt auch von Parfum und welkenden Blumen. Ein Bechsteinflügel auf dem hell beleuchteten Podium. Und Elli mit ernsten Augen und einer Urkunde in der Hand. Ein erster Preis. Der letzte vor dem folgenschweren Unfall …
Winnie schlug die Augen wieder auf und sah auf einmal wieder die Kassettenhülle vor sich, die ihr beim Aufräumen in die Hände gefallen war. Ellis Geschenk.
Sie sah die akkurate Kinderschrift ihrer Schwester auf dem Cover: Robert Schumann, Waldszenen Op . 82 .
Verrufene Stelle, fuhr es ihr durch den Sinn.
Das Stück, das ich höre, heißt Verrufene Stelle!
4
„Was , zum Teufel, läuft da schief?“
Verhoeven sah seinen Vorgesetzten nicht an. Er fühlte eine kalte, lähmende Wut in sich, die auf dem Bewusstsein eigener Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit gründete.
Er war in der JVA gewesen und hatte sich Jasper Fennrichs Zelle angesehen.
„Es gab keinerlei Hinweise auf eine akute Depression“, hatte der Direktor der Haftanstalt gleich mehrfach wiederholt. „Er ist ganz ruhig gewesen und hat sein Abendessen mit großem Appetit verzehrt.“
Die Leiche war zunächst auf die Krankenstation gebracht worden, und Verhoeven hatte die schmalen Lippen angesehen, die fest geschlossen waren, als fürchte Jasper Fennrich noch im Tod, etwas über sich verraten, das er lieber für sich behalten wollte. Jemand hatte die arthritisch verformten Hände über dem Bauch gefaltet und die brüchigen Lider geschlossen, ein Akt der Humanität, über den Verhoeven sich jedoch nur noch mehr geärgert hatte, denn er hätte seinem Hauptverdächtigen liebend gerne noch einmal in die Augen gesehen. Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass ihm dort etwas entgangen war. Etwas, das er hätte sehen müssen und nicht gesehen hatte. Augen, dachte er, verraten viel über eine Persönlichkeit. Aber in diesem Fall habe ich nicht genau genug hingesehen.
Ich habe versagt.
Und nun ist Jasper Fennrich tot …
„Warum, glauben Sie, hat er sich umgebracht?“, bereitete die Stimme seines Vorgesetzen den Selbstvorwürfen ein abruptes Ende. „Aus Reue?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Verhoeven. Ihm war, als ob er Kopfschmerzen bekäme. Wortfetzen jagten durch seine Gedanken. Wirre, unzusammenhängende Erinnerungen an Gespräche, die er geführt
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