Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Betrunkene beobachtet, Passanten, Suchende, Männer und Frauen, halbverrückt vor Einsamkeit und Hitze.
Irgendwann gegen Morgen hatte sie das Licht wieder eingeschaltet und sich noch einmal mit Lilli Dahls Aufzeichnungen beschäftigt. Sie hatte sich sämtliche Briefe vorgenommen und Listen erstellt, Personen und Daten, die erwähnt wurden, Randbemerkungen, Familienverhältnisse . Ihr war klar, dass ihr Heil darin lag, systematisch vorzugehen. Detailversessen. Sie musste herausfinden, was für eine Art Mensch die Tote gewesen war. Nur dann hatte sie so was wie eine Chance, den Hintergründen dieses mysteriösen Verbrechens auf die Spur zu kommen.
Vielleicht sitze ich deshalb schon wieder hier rum, überlegte sie, während sie auf das Wasser hinausblickte, das jetzt, am frühen Morgen, einen intensiven Moosgeruch verströmte. Ich will verstehen, wie Lilli Dahl getickt hat. Was sie gesehen hat, wenn sie aufgestanden ist. Was in ihr vorgegangen ist.
„Wer bist du, Lilli?“, flüsterte sie in den hell rosafarbenen Morgen hinaus. „Eine Frau, die sich mit sich selbst unterhält und dennoch glaubt, so et was wie ein Gespräch zu führen?“
Unter ihr gluckerte der See.
„Bist du glücklich gewesen? Einsam? Verrückt?“
„ Nein“, widersprach Lilli Dahl aus weiter Ferne. „Vielleicht wirke ich manchmal so, aber ich bin nicht verrückt. Jasper behauptet das nur, damit ich mich nicht aus dem Haus traue.“
„ Mag sein“, sagte Winnie mit einem leisen Lächeln. „Aber du bist trotzdem gegangen. Du hast dir deine Freiheit nicht nehmen lassen. Und du bist klug genug gewesen, deine kleinen Ausflüge zu vertuschen.“
Sie drehte sich zu der Hütte um, die Lillis Zuhause gewesen war, und überlegte, was für eine subtile Art von Psychokrieg zwischen Fennrich und ihr getobt haben mochte.
Eine froschgrüne Tür …
Sein allabendliches Bad im See, d as Lilli so zuwider gewesen war …
Schmetterlinge aus Pappe …
Hatte Lilli Dahl sich irgendwann einfach in eine andere, bessere Welt geflüchtet, in eine Phantasiewelt? Hatte sie sich an einen Ort zurückgezogen, an den das Grauen ihr nicht folgen konnte?
„Aber es ist ihr gefolgt“, widersprach Winnie sich selbst. „Es ist ihr gefolgt, und am Ende hat es sie getötet …“
Neben ihr flüsterte das Schilf, als ob es ein Geheimnis hüte, das es partout nicht preisgeben wollte , und sie wandte sich seufzend wieder dem Wasser zu.
Ein leiser Wind war aufgekommen und ließ die hohen Tannen rauschen. Winnie betrachtete die bewaldeten Hügeln auf der anderen Seite der Sees, die der Morgendunst in zarte, wattige Schleier hüllte, und musste unwillkürlich an Musik und romantische Dichter denken. Ein Ort wie dieser schien einem Gedicht des 19. Jahrhunderts entsprungen zu sein, zumindest, wenn man auf den See hinausblickte und die Hütte mitsamt ihrem Müll und der froschgrünen Tür ausblendete.
Ja, dachte Winnie, die Welt von diesem Steg aus zu betrachten, ist ein schöner und zugleich seltsam unwirklicher Anblick. Wie ein Gemälde, erdacht von einem, der es verstanden hat, neben den Gegebenheiten der Natur auch die unsichtbaren Schwingungen festzuhalten, die diesem Ort innewohn en. Den Frieden. Aber auch die leise Bedrohung, die bei aller Schönheit über den grünen Wassern schwebt. Sie bewegte die Finger ihrer verletzten Hand, die leise zu schmerzen begann, und dachte daran, was ihr Vater gesagt hatte, wann immer sie sich über ein Gedicht beschwert hatte, das sie auswendig lernen sollte: Ein bisschen humanistische Bildung hat noch niemandem geschadet …
Ja, ja! Winnie schenkte dem See ein sarkastisches Lächeln. Obwohl sie Verhoeven gegenüber das Gegenteil behauptet hatte, wusste sie nicht, wie es ihren Eltern ging, ob sie gesund waren und wie sie den Tod ihrer jüngeren Tochter verkrafteten. Sie hatten einander zuletzt bei Ellis Begräbnis gesehen, allerdings nur von weitem. Und am Tag danach hatte sich Winnie eine neue Handy- und auch eine andere Festnetznummer besorgt. Ihre Mutter hatte ihr ein paar Briefe geschrieben, und sie hatte diese Briefe in den Müll geworfen, denn genau dort gehörten sie ihrer Meinung nach hin. Und doch waren es Sätze wie der, der ihr gerade durch den Kopf ging, die ihr bewusst machten, dass sich die Erinnerung an ihre Eltern niemals komplett würde tilgen lassen.
In neunzehn gemeinsamen Jahren blieb zwangsläufig etwas hängen. Etwas, das man für den Rest seines Lebens mit sich herumschleppte, ob man nun wollte oder
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