Die Jahre der Toten: Roman (German Edition)
wunderbar gepflegtes Winchester-Repetiergewehr aus dem Ständer. Er wiegte es fast verträumt auf den Armen und stieß leise Seufzer aus.
» Wunderschön«, sagte er leise vor sich hin. Er drehte die Waffe herum und fuhr mit dem Finger über die feinen Gravuren auf dem Griffstück und die handgeschnitzten Muster auf der Schulterstütze. Stiles kannte sich so gut mit Waffen aus, dass er wusste, dass dies nichts war, was man auf einem Ständer im Schaufenster ausstellte. Ältere Winchestergewehre erzielten in gewissen Sammlerkreisen mehrere zehntausend Dollar. Selbst jene, die fast ein Jahrhundert auf dem Buckel hatten, waren noch immer so tödlich und praktisch wie an dem Tag, an dem man sie hergestellt hatte. Dies hier war mehr als nur ein Lagerraum– es war der Ausstellungsraum des Ladenbesitzers.
Stiles beschloss in diesem Moment, dass die anderen entscheiden konnten, wer was bekam– aber die Winchester gehörte ihm. Die Waffe war sein Finderlohn.
Er betätigte den Unterhebelrepetierer. Das schnelle Klack-Klack warf in dem Kellerraum Echos, und Stiles nickte zufrieden. Die Waffe war eindeutig gepflegt und gut in Schuss. Sogar ein Gurt war an ihr befestigt. Er stellte sie wieder in den Ständer und machte eine Bestandsaufnahme der anderen Dinge im Raum.
Stiles umrundete die Waffenständer und ließ seinen Lichtstrahl an der Wand entlangwandern.
Plötzlich tauchte ein blutiges Gesicht aus der Finsternis hervor und stierte ihn aus großen Augen an.
Stiles machte einen Luftsprung, rutschte zurück und krachte gegen die Holzregale, so dass einige Pappkartons sich verschoben. Er zückte seine Pistole und zielte, den Finger am Abzug, auf den Angreifer. Nach einem Moment begriff er, dass die blutige Gestalt ihn nicht attackierte. Er entspannte sich, doch das durch seine Venen pumpende Adrenalin ließ seine Hände beben und ihn stoßweise atmen.
Stiles ließ die Pistole sinken und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Die Leiche war nur eine Leiche. Sie würde nicht irgendwann wieder aufstehen.
Nach einer Weile rappelte er sich auf und ging näher heran, um sie zu untersuchen. Er ging vor der leblosen Gestalt in die Hocke und leuchtete sie mit der Taschenlampe an.
Es war ein Mann in den mittleren Jahren. Er trug Jäger-Tarnzeug und eine Rollmütze. Schwarze Gesichtsfarbe war unter seinen Augen verschmiert. Es war eindeutig, dass er zu überleben beabsichtigt hatte, doch irgendetwas hatte ihn seine Meinung ändern lassen.
Seine schlaffe Hand hielt eine langläufige .357. Der Lauf war mit geronnenem Blut bedeckt. Der Mann hatte ihn in den Mund geschoben und abgedrückt. Sein Hinterkopf war zerschmettert. Getrocknetes schwarzes Blut bedeckte die ansonsten kahle Wand der Kellerecke hinter ihm.
Stiles fragte sich kurz, was den Mann bewogen hatte, sich umzubringen. Vielleicht war ihm seine Lage zu hoffnungslos erschienen?
Er streckte eine Hand aus, nahm dem Mann die Magnum aus der Hand und wischte das Blut von dem Metall der Waffe ab– man konnte ja nie wissen. Dann schob er sie in seinen Pistolengurt.
» Verzeihung«, sagte Stiles zu dem Toten. » Aber wir brauchen sie nötiger als du.«
Er wollte sich gerade aufrichten, als er einen Lauf sah, der hinter dem Toten in die Höhe ragte. Nun sah er auch den schwarzen Kunststoffgurt, der über die Schulter des Mannes lief. Der Bursche war gut bewaffnet durchs Leben gegangen. Stiles zog ihn nach vorn, verzog angesichts seiner Starre das Gesicht und zog das Gewehr hinter seinem Rücken hervor. Es war eine einfache, doch tödliche Ruger Mini-14, ein kompakter Zivilkarabiner, über den er noch nie ein böses Wort gehört hatte. Die Waffe würde gut zu den anderen passen.
Nun galt es nur noch ein Problem zu lösen. Wie konnte er all seine Neuerwerbungen dorthin bringen, wo Sherman und die restlichen Überlebenden warteten?
Stiles dachte einen Moment über diese Frage nach, dann schaute er sich tatsächlich nach einem größeren Tornister um. Er musste kichern– freilich lautlos–, denn kein Rucksack war groß genug, dass ein Dutzend Gewehre und die ganze im Laden gefundene Munition hineinpassten. Ganz zu schweigen von den vielen Konservendosen in den Regalen, die sie ebenfalls dringend brauchten. Er musste also mehrmals gehen.
» Der Teufel soll mich holen, wenn ich noch fünfmal durch dieses Nest schleiche, ohne dabei draufzugehen«, murmelte er vor sich hin.
Es wäre besser gewesen, wenn er fünf Leute mitgebracht hätte, um das ganze Zeug fortzuschaffen. Es war
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