Die Jahre der Toten: Roman (German Edition)
vor einer Kugel aus der Pistole des Postens bewahrt.
» General?«, rief Stiles aus dem Nebel.
» Ich bin hier, mein Sohn. Kommen Sie her und nehmen Sie sich was zu futtern. Es gibt was Warmes, überm Lagerfeuer gekocht. Es steht Ihnen zu, was auch immer Sie gefunden oder nicht gefunden haben!«
» Geht nicht, General. Ich bleibe, wo ich bin.«
Sherman runzelte die Stirn, dann schaute er zu Thomas hinüber, der eine finstere Miene aufsetzte. Er und der Sergeant Major hatten offenbar den gleichen Gedanken.
» Was ist los, mein Sohn?«, fragte Sherman, wobei er jedes Wort leise betonte, tröstend und mit einem Anflug von Sorge.
» Ich bin fertig, Sir. Am Arsch. Ein Watschler hat mich auf dem Rückweg gebissen. Ich komme nicht näher ans Lager ran.«
Sherman machte den Mund auf, als wollte er antworten, doch dann schloss er ihn wieder. Was sagte man auch zu einem Menschen, der wusste, dass er sterben musste und sich scheinbar gelassen seinem Schicksal ergab?
» Erleichtern Sie’s ihm, Sir«, sagte Thomas und verzog das Gesicht. Trotz seines Draufgängertums stieg niemand zu seinem Rang auf, ohne seine Untergebenen zu kennen und sich um sie zu sorgen. Und außerdem sah es nun wieder so aus, als läse er Shermans Gedanken.
» Stiles! Kommen Sie wenigstens so weit ran, dass wir Sie sehen können! Wir schicken Ihnen Rebecca, damit sie Sie ansehen kann. Wir können es Ihnen erleichtern. Sie brauchen nicht allein zu sein, mein Sohn.«
» Ich weiß nicht, Sir.«
Sherman furchte die Stirn. Es war offenbar Zeit für einen Anschiss.
» Sie kommen jetzt sofort her, mein Sohn. Das ist ein Befehl. Selbst wenn Sie gebissen wurden, wird es eine Weile dauern, bis es Sie erwischt. Becky soll sie untersuchen, Ihnen ein Schmerzmittel verpassen und eine gute Mahlzeit bringen. Dann reden wir über die Möglichkeiten, die Sie haben.«
Eine ganze Minute lang herrschte Schweigen. Sherman glaubte schon, dass Stiles kehrtgemacht hatte und abgehauen war. Ihm wurde bewusst, dass der Respekt, den er für den Mann empfand, noch zunahm. Stiles drehte nicht durch. Er verzweifelte nicht. Er sorgte sich noch immer um seine Brüder und Schwestern, obwohl er tödlich verletzt worden war.
» Ja, Sir«, sagte Stiles schließlich. » Ich komme näher. Aber nur unter Protest.«
» Verstanden. Kommen Sie jetzt her, Soldat!«
Vor Sherman tauchte aus dem Nebel eine merkwürdig geformte Gestalt auf. Sie wirkte größtenteils menschlich, doch vollgestopfte Beutel baumelten von ihrem Netzgeschirr herab, und ein langes, in Stoff verpacktes Bündel lag über ihren Schultern. Stiles hinkte. Er stützte sich auf das linke Bein und verwendete ein blitzblankpoliertes Gewehr als Krücke. Eine Hälfte Shermans wäre am liebsten zu ihm hingelaufen, um ihm zu sagen, dass man ihn schon wieder hinkriegen würde, doch die andere Hälfte– Sherman nahm es mit Unbehagen zur Kenntnis– verhielt sich professionell. Wenn Stiles ein Gewehr gefunden hatte, hatte er sicher auch noch weitere gefunden. Dies ließ ihre Überlebenschancen beträchtlich ansteigen. Stiles war in einer ansonsten hoffnungslosen Situation nicht nur gelassen geblieben, sondern hatte seinen Auftrag auch vorschriftsmäßig erledigt.
Thomas rief Rebecca zu, ihren Medizinkram zu packen und nach vorn zu kommen. Seit dem Zwischenfall mit Decker und den anderen Infizierten auf der USS Ramage hatte sie nicht viel gesagt. Sie kämpfte anscheinend gegen irgendwelche inneren Dämonen, doch war sie wie der Rest der Überlebenden inzwischen abgehärtet genug, um zu wissen, wann sie gebraucht wurde.
Als Sherman auf den verletzten Soldaten zuging, näherte Rebecca sich im Laufschritt. Stiles salutierte. Sherman erwiderte seinen Gruß so zackig wie zuletzt beim Empfang seines ersten Offizierssterns.
» Gut, Sie wiederzusehen, Soldat.«
» Danke, Sir.«
» Meldung?«
Stiles nickte, löste die an ihm hängende Ausrüstung und ließ sich, völlig erschöpft von seinem nächtlichen Raubzug, zu Boden sinken. Rebecca hob einen Finger, um die beiden Männer am Reden zu hindern.
» Einen Moment«, sagte sie. » Wo ist der Biss? Am Bein?« Sie sah, dass Blut durch Stiles’ Kampfanzughosen sickerte.
» Yeah. Ein Waschsalon-Typ namens Don. Ich habe ihn getötet, aber ich war ein bisschen zu voreilig, aus dem Laden zu kommen. Hab vergessen, dass der Arsch als Watschler wiederkehren würde. Er ist rausgekrochen und hat mich gepackt, ohne dass ich’s auch nur gemerkt habe. Hat fest zugebissen, bevor ich ihn
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